Schon in den Titeln der vier Hauptwerke klingt ihr unverkennbarer Ton an: das erzählerische Debüt "Luftpost", der Lyrikband "Wisperzimmer", die kleine Prosa in "Woher nehmen Sie die Frechheit, meine Handtasche zu öffnen?". Zu Lebzeiten erschien als letztes der Gedichtband "Rückruf", der sich mit magischem Sprachrealismus der Natur und dem Kreatürlichen sowie einer metaphysischen Intensität öffnet und zu ihrem Vermächtnis wurde.
Die nachgelassen Prosastücke und Miniaturen, die Marie T. Martin als nächste Veröffentlichung geplant hatte, bilden nun das Herzstück des schön gestalteten Bandes. Intensiv und feinfühlig spürt sie das Verborgene auf, die Stadt hinter der Stadt, die Leere im Lebenshaus. Es gibt "Briefe aus Immerwald" und einen an das jüngere Ich. Eine Zen-Geschichte der weiblichen Befreiung und der Versuch, mit Trauer umzugehen über den Suizid der Freundin, indem sie deren letzten Tag umschreibt, in der Hoffnung einen Ort zu finden, an dem sie sich wiedersehen.
Verspielt erzählt die Autorin von der "Praxis für Transformation" mit ungewöhnlichen Heilmethoden, erfindet eine skurrile Mundart oder Fortbildungen für ineffektives Arbeiten. In behutsamer Nähe zum magischen Denken ist manchen Texten ein Talisman vorangestellt, ein Armreif mit Schriftzeichen in unbekannter Sprache, eine Schale Reis, der niemals verdirbt oder ein schneegefülltes Marmeladenglas.
Ihre Poetik zwischen Ahnung, Erinnerung und dem Wunsch nach Heilung bewegt sich spürbar auf das Licht zu – eine wiederkehrende Metapher. Fast schwerelos beziehen die Texte ihre Dynamik aus dem Ungesagten und beleuchten die Pause zwischen zwei Sätzen. Diese Wahrnehmung aus der Stille berührt unmittelbar. "Der Winter dauerte 24 Jahre und ich werde mein Herz nicht vergraben."
Eine Rezension von Bettina Hesse
Literaturangaben:
Marie T. Martin: Der Winter dauerte 24 Jahre. Werke und Nachlass
Hg. von Hanna Lemke und Andreas Heidtmann
Mit Illustrationen von Franziska Neubert
Mit einem Nachwort von Norbert Hummelt
poetenladen 2024
432 Seiten, 24 Euro