Als 2019 "Tage wie Hunde" erschien, das Buch über ihre Krebserkrankung, galt die Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert als gesund. Dann meldete sich der Krebs zurück. Nach einer längeren Behandlung scheint wieder alles in Ordnung zu sein. Bis ein MRT-Scan das Gegenteil zeigt.
"Es war der Auftakt zu einem intensiven Abschnitt unserer Geschichte. Symmetrisch zum Anfang, der Verliebtheit. Ohne deren Übermut, aber identisch im Maß der Verbundenheit. Ein bisschen so, als wäre alles dazwischen – meine mögliche Unreife, Deine Szenen, unsere Purzelbäume – nichts gewesen als ein jahrzehnte¬ langes Intermezzo", schreibt Ehemann Bergkraut über die drei letzten Monate, die dem Paar und seinen Söhnen noch bleiben.
Tagebuchartig gibt Bergkraut Eindrücke aus dem Krankenhausalltag wieder. Die Behandlungen sind palliativ. "Ich han gar nöd wele sterbe. Jetz", sagt seine Frau. Er freut sich, dass sie dank der Strahlenbehandlung die Lippen für einen Kuss wieder spitzen kann. Er massiert ihr den Nacken, hilft ihr bei der Körperpflege. Selten klagt sie über Schmerzen. Ich bin jetzt bereit, helft mir, Abschied zu nehmen von der Welt, notiert Ruth Schweikert im Februar. Andererseits hängt sie an der Hoffnung, eine Immuntherapie mit einem bestimmten Medikament könne Aufschub verschaffen. Eine doppelte Botschaft für den Ehemann. Um ihr beim Loslassen zu helfen, muss er selbst loslassen.
Als Ruth Schweikert das erhoffte Medikament bekommt, reagiert sie mit einem vermeintlichen Herzinfarkt, die Behandlung wird abgebrochen. Eric Bergkraut holt seine Frau nach Hause, in das eigene Wohnzimmer. Pflegende aus der Ukraine unterstützen ihn. "Nicht schon wieder Linsensuppe", murrt die Sterbende, als der Ehemann diese zum dritten Mal auftischt. Einem Sohn sagt sie, der Bart müsse weg. Musiker kommen regelmäßig vorbei und auch viel Besuch. Der Sohn serviert Bratwurst. Zum ersten Mal nach vielen Wochen kann Ruth Schweikert wieder für einen Moment stehen; der Ehemann umarmt sie.
Er werde an seine Grenzen gehen müssen für dieses Journal, weiß Eric Bergkraut. Im Text selbst aber hält er den eigenen Schmerz zurück. Der Lebenswille seiner Frau, ihre Stärke und Würde stehen im Vordergrund. Eric Bergkraut ist Dokumentarfilmer, der preisgekrönte Filme, zum Beispiel über die russische Oppositionelle Anna Politkowskaja, gedreht hat. Diskret hält er sich als Beobachter zurück, lässt kleine Alltagsausschnitte, feine Beobachtungen, aber auch Erinnerungen für sich sprechen, wertet nicht. Das Ergebnis ist um so berührender.
Es mag wahr sein, dass jeder für sich allein stirbt. "Hundert Tage im Frühling" legt Zeugnis davon ab, dass das, was vorher passiert, den Unterschied machen kann. Im Prozess des Sterbens entstehent für Begleitende und Sterbende tatsächlich so etwas wie Lebensqualität. Ruth Schweikert stirbt am 4. Juni. "Ich habe das Bedürfnis, mich vor Dir zu verneigen", schreibt Bergkraut. Hier ist Pathos erlaubt. Die Leser schließen sich an.
Eine Rezension von Mareike Ilsemann
Literaturangaben:
Eric Bergkraut: Hundert Tage im Frühling: Geschichte eines Abschieds
Limmat, 2024
208 Seiten, 27 Euro
Ruth Schweikert: Tage wie Hunde
S. Fischer Verlag, 2019
202 Seiten, 17 Euro