Als Hector Berlioz jenseits der Dreißig ist, beginnt er, ein Werk von besonderen Ausmaßen zu konzipieren. Ouvertüren hat er bislang komponiert, ein Ballett, Szenen aus Goethes "Faust" vertont. Nichts, was seine Mitmenschen von seinem Genie wirklich überzeugen konnte. Nun ergibt sich eine einmalige Gelegenheit. 1836 wird Adrien de Gasparin, ein Freund der Familie, zum Minister ernannt. Gegen Intrigen setzt es der musikinteressierte Politiker durch, dass Berlioz den Auftrag erhält, für die Gefallenen der Julirevolution von 1830 eine Totenmesse zu komponieren.
Solch ein staatstragender Anlass erfordert besondere Mittel. Und so plant Berlioz eine Partitur mit "unerhörter" Besetzung. "Gattung: Kolossal" notiert er dazu. 50 Geigen, 20 Bratschen, 20 Celli und 18 Kontrabässe finden sich unter anderem auf der Besetzungsliste, dazu 16 Pauken, 210 Sängerinnen und Sänger und vier Blechblas-Fernorchester. Das Instrumentarium dürfe je nach zur Verfügung stehendem Raum verdoppelt und verdreifacht werden, schreibt Berlioz in die Partitur.
Die geplante Uraufführung des Requiems im Juli 1837 scheitert zunächst - er stünde da "wie Robinson mit seinem Kanu, das er nicht vom Stapel lassen konnte", schreibt Berlioz in einem Brief. Doch schon wenig später naht ein neuer Termin, der Staatstrauerakt für ein im Algerienkrieg gefallenen General am 5. Dezember 1837. Die Pariser Kritiker bejubeln das Werk fast einstimmig. Das Publikum im Invalidendom wird von der "Grand Messe de Morts" bis ins Mark erschüttert. Während des höllischen Dröhnens des "Tuba Mirum" fällt ein Sänger in Ohnmacht. Ein Priester wirft sich vor den Altar und lässt seinen Tränen freien Lauf.
Schnell arriviert die "Grande Messe des Morts", wie das Requiem in Frankreich heißt, zu einem Werk von nationaler Bedeutung. Vieles kann man darin sehen: Ein spektakuläres Musikdrama, eine musikalische Seelenreise, ein effektvoller Trip in die Hölle. Sicher aber stellt das Requiem auch eine Eroberung von musikalischem Neuland dar. Berlioz, der sich den lateinischen Text für seine Zwecke einrichtet, zieht alle Register seiner Kunst, schreibt Chorsätze und erprobt originelle Instrumentenkombinationen. Vor allem interessiert ihn die Bewältigung akustischer Probleme und die "Gewalt der musikalischen Massen" (Berlioz), deren Herr er hier ist.
Philipp Ahmann hat das Requiem selbst gesungen und als Chordirigent mit dem WDR Rundfunkchor einstudiert. Der 1974 geborene Dirigent ist seit 2008 Direktor des NDR Chores in Hamburg. Ahmann kennt die Schwierigkeiten, vor denen man als Sänger des Requiems immer wieder steht. In seiner Werkbetrachtung gibt er Einblick in ein Werk, dessen Monumentalität später oft verurteilt wurde, das die ungeheuren Mittel aber in Wirklichkeit sehr zurückhaltend einsetzt. Leid, Verletzlichkeit und Intimität ist im Requiem von Hector Berlioz zu finden: Schönheit und Schrecken, die eng beieinander liegen.
Eine Collage von Markus Bruderreck
Redaktion: Eva Küllmer