10.06.2024: Olivier Messiaen, "St. François d’Assise" in der Elbphilharmonie Hamburg
Stand: 10.06.2024, 09:30 Uhr
Man fragt sich, warum die acht Szenen aus dem Leben des Heiligen Franziskus von Olivier Messiaen über vier Stunden dauern. Es sind Szenen ohne komplizierte Handlungen, ohne Intrigen, Gegenspieler oder Konflikte. Wer allerdings diese Strecke mit den über 300 Mitwirkenden in der Hamburger Elbphilharmonie unter Leitung von Kent Nagano gegangen ist, ist nicht nur um eine intensive musikalische Erfahrung reicher, sondern hat wahrscheinlich auch etwas von dem erfahren, was Messiaen selbst mit religiöser Musik meinte: keine konfessionell, liturgisch gebundene Andachtsmusik, sondern ein "nach innen gerichtetes und dennoch lichtvolles Drama", das, wie Messiaen es selbst ausdrückte, die "Hauptmysterien meines Glaubens" behandelt und alle seine "musikalischen Entdeckungen" zusammenbringt.
Eines dieser Mysterien ist die Musik selbst, das 5. Bild des 2. Akts ("Der musizierende Engel") aufgerufen wird. Am Ende dieses Abschnitts singt Franziskus: "Hätte dieser Engel noch ein wenig länger […] gespielt, meine Seele hätte meinen Körper vor unerträglichem Glück verlassen." Das große Verdienst der Hamburger Aufführung bestand darin, dass das, was Messiaen musikalisch notiert hat, nie in einer schwärmerischen Ekstase erklang, sondern - befördert durch die diesem Werk überaus zuträgliche glasklare Akustik der Elbphilharmonie - immer in seiner Komplexität, in seiner Struktur und in seiner Eindringlichkeit präsent war. In diesem Tableau waren das zarte Klänge, die von einem skurrilen elektronischen Instrument namens Ondes Martenots ausgingen, das wie ein Glasharmonika klingt, aber auch martialisch dröhnendes Blech und ein hyperpolyphon wild spielendes Orchester, in dem immer wieder tonale Inseln vernehmbar wurden.
Ein Leitmotiv des ganzen Stücks sind die Vogelgesänge, die hauptsächlich von den Schlagwerkern angestimmt werden und ihren Höhepunkt in der berühmten Vogelpredigt finden, in der die Vögel Messiaens in einem hoch virtuosen Dreiminuten-Stück auf St. François antworten. Auch hier paart sich das Musikalische mit der pantheistischen Weltzugewandtheit des Franziskus (und Messiaens).
Im 3. Akt, der letztlich von einer Nahtod-Erfahrung handelt, die schließlich in das Sterben von Franziskus mündet, ist man nie in ätherischen Klanggefilden, sondern spürt, welcher Schmerz und welche Anstrengung nötig ist, um "ins himmlische Königreich zu kommen". Die Christusfigur wird hier von einem riesigen Chor verkörpert, der laut und einhämmernd die Worte "Ich bin, ich bin, ich bin" herausschleudert, eingerahmt von den denkbar tiefsten Tönen der Bläser, Kontrabassklarinette, Kontrafagott, Kontrabasstuba.
Kent Nagano, der "St. François d’Assise", schon 1983 als Assistent bei der Uraufführung vorbereitete und 1998 Aufführungen bei den Salzburger Festspielen leitete, ist der ideale Dirigent für Messiaen. Ihm gelingt es, alles, wirklich alles hörbar zu machen und so die konstruktive Unbedingtheit, die dieses Werk ausstrahlt, zu transportieren. Auch Jacques Imbrailo als St. François verlor sich nicht im märtyrerhaften Leidenston, sondern trug seine Rolle fast in der zurückhaltenden Rhetorik eines Wissenden und noch Suchenden vor, allerdings ohne hölzern zu wirken, sondern beseelt. So war die Vogelpredigt war ein schlichter appellativer Gesang mit einer synchronen, bisweilen unisonen Orchesterbegleitung, worauf das Vogelkonzert umso intensiver wirkte. Anna Prohaska wurde als musizierender Engel einmal an Seilzügen in schwindelnde Höhen befördert, von wo sie in klarer Diktion und in leuchtend heller Stimme verkündet: "… höre diese Musik, die das Leben auf die Himmelsleitern erhebt."
Der Regisseur Georges Delnon und sein Team haben sich gefragt, was das Franziskanische in unserer Zeit bedeuten kann und diese Assoziationen in Videos eingefangen, die auf eine in der Höhe angebrachte kreisförmige Leinwand projiziert wurden: Obdachlosenhilfe, Seenotrettung, Klimaforschung, Hospizarbeit... Einmal sieht man Musiker bei oder auf dem Weg zu ihrer Arbeit - als Anspielung auf Messiaens eigenen Erkenntnis- und Erfahrungsimpuls. Diese Videos wollten nicht das Werk mittels moderner Regiesprache umdeuten, sondern lieferten zurückhaltende Fingerzeige, die nicht an die von Messiaen an vielen Stellen beschworene Erfahrung der Blendung und Überwältigung heranreichten, trotzdem aber hilfreiche Impulse setzten und so die musikalische Intensität und Anstrengung auf das Hier und Jetzt verwiesen.
Premiere: 02.06.2024, besuchte Vorstellung: 09.06.2024
Besetzung:
St. François: Jacques Imbrailo
L'Ange: Anna Prohaska
Le Lépreux: Anthony Gregory
Frère Léon: Kartal Karagedik
Frère Massée: Dovlet Nurgeldiyev
Frère Elie: Andrew Dickinson
Frère Bernard: David Minseok Kang
Frère Sylvestre: Florian Eggers
Frère Rufin: Niklas Mallmann
Audi Jugendchorakademie
Vokalensemble LauschWerk
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Szenische Einrichtung: Georges Delnon
Szenografie: Thomas Jürgens
Kostüme: Julia Mottl
Video: Marcus Richardt
Kamera/Schnitt: David Rankenhohn
Licht: Stefan Bolliger
Dramaturgie: Ralf Waldschmidt, Janina Zell
Chöre: Martin Steidler, Sonja Lachenmayr