Nach mehr als 30 Polizeischüssen: 19-jähriger Autofahrer gelähmt
Stand: 14.06.2023, 12:47 Uhr
Ein 19-jähriger Autofahrer wird von mehreren Polizei-Projektilen getroffen. Jetzt ist sein Zustand stabil, doch er wird wohl querschnittgelähmt bleiben. Zwei Wochen nach den Geschehnissen ist noch vieles ungeklärt. Die SPD-Landtagsfraktion hat eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt.
Von Oliver Köhler
Es ist Samstag, der 3. Juni 2023, 4.35 Uhr. Polizisten in einem zivilen Streifenwagen fällt in Herford ein schwarzer Audi ohne eingeschaltetes Licht auf. Sie wollen den Wagen kontrollieren, doch der 19-jährige Fahrer gibt Gas und versucht zu flüchten. Die Beamten nehmen die Verfolgung auf und fordern Verstärkung an. Fünf Streifenwagen aus den Kreisen Herford und Lippe kommen hinzu. Im knapp 20 Kilometer entfernten Bad Salzuflen stellen sie den Flüchtigen in einer Sackgasse. Dann eskaliert die Situation.
Anwohner schockiert
Jakob Reimer ist noch immer fassungslos. Der 70-Jährige wohnt am Ende der Sackgasse. Sirenen, Blaulicht und schreiende Polizisten schrecken ihn aus dem Schlaf. Er schaut aus dem Fenster, sieht, wie ein schwarzer PKW versucht zu wenden, das Zivilfahrzeug der Polizei rückwärts rammt und dann versucht loszufahren. In diesem Moment fallen zahlreiche Schüsse. "Ich verstehe nicht, warum überhaupt geschossen wurde. Der konnte doch nirgends hin, er steckte fest. Die Straße war dicht mit Polizeiautos."
Er selbst sei in Deckung gegangen, sagt Reimer. Er habe Angst vor Querschlägern gehabt. Nicht unberechtigt, wie sich hinterher zeigt. Das Garagentor seiner Nachbarin wurde durchschossen, auf der Straße und den Bordsteinen finden sich Einschusslöcher. Ein Polizeibeamter soll durch einen Querschläger verletzt worden sein. Die zuständige Staatsanwaltschaft Detmold will sich dazu nicht äußern, bestätigt nur, dass nach derzeitigem Stand aus insgesamt sechs Dienstwaffen 34 Schüsse abgegeben wurden.
Raste Autofahrer auf Polizisten zu?
Der Audi des 19-Jährigen kommt nach den Schüssen wenige Meter weiter zum Stehen. Der junge Mann ist lebensgefährlich verletzt. Mit einem Rettungshubschrauber wird er in die Medizinische Hochschule nach Hannover geflogen.
Wie viele Polizeikugeln ihn trafen, soll nun ein medizinisches Gutachten klären. Die Polizei spricht von fünf, die Familie des Autofahrers behauptet in einem Zeitungsinterview, dass es bis zu acht gewesen seien. Der 19-Jährige sei jetzt querschnittsgelähmt.
13 beteiligte Polizistinnen und Polizisten
Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Fahren ohne Fahrerlaubnis und diverse Verkehrsdelikte vor. Und es bestünde der Anfangsverdacht des versuchten Mordes. Ein Gutachter soll jetzt klären, ob er tatsächlich nach seinem Wendemanöver in der Sackgasse auf die Polizisten losgerast sein könnte und sie sich so in akuter Gefahr befanden. Das hatten die an der Verfolgungsfahrt Beteiligten ausgesagt.
Insgesamt waren 13 Polizisten und Polizistinnen an dem Einsatz beteiligt. Nach Informationen des WDR alles noch junge, eher dienstunerfahrene Kommissare. Der Älteste soll 24 Jahre alt sein. Gegen die sechs Schützen wird nun - wie üblich in solchen Fällen - wegen des Anfangsverdachts auf Körperverletzung im Amt ermittelt.
Keine Videoaufzeichnungen vom Geschehen
Keiner der Beamten hatte seine Bodycam eingeschaltet. Videoaufnahmen gibt es nicht, bestätigt die Staatsanwaltschaft. Den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei in Ostwestfalen-Lippe, Patrick Schlüter, überrascht das nicht: "Es gibt ein Misstrauen. Was geschieht mit den Aufzeichnungen? Wie werden Dinge interpretiert, wenn man das Bildmaterial sieht?"
Der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Düsseldorfer Landtag, Marc Lürbke, verlangt nun Aufklärung. Der Politiker aus Paderborn fordert Innenminister Herbert Reul (CDU) zum Handeln auf: "Der Innenminister verpflichtet seine Beamten, Bodycams zu tragen, sagt ihnen aber nicht, wann sie einzuschalten sind. Gerade wenn die Schusswaffe gezogen wird, muss doch die Bodycam automatisch angehen." Lürbke will den Einsatz nach der Sommerpause im Innenausschuss aufarbeiten. Das Innenministerium hält sich mit einer Bewertung und daraus resultierenden möglichen Konsequenzen noch zurück. Dies könne erst nach Abschluss der laufenden Ermittlungen erfolgen, teilte ein Sprecher dem WDR mit.
Sondersitzung des Innenausschusses
Zum Schusswaffeneinsatz der Polizei hat die SPD-Landtagsfraktion jetzt eine Sondersitzung des Innenausschusses beantragt. Das teilte die Fraktion mit. Geklärt werden solle unter anderem, wieso es von dem Einsatz offenbar keine Videoaufnahmen von Kameras an Streifenwagen oder Bodycams der Polizisten gebe, so die SPD.
Über dieses Thema berichteten wir im WDR Fernsehen: Lokalzeit OWL, 19.30 Uhr.