Acht Beteiligte wurden bei der Fahrt am Samstag schwer verletzt, elf Menschen erlitten leichte Verletzungen. Rund 50 Fahrzeuge waren demnach an der Unfallserie beteiligt. Die Düsseldorfer Polizei schätzt den Schaden auf rund 1,8 Millionen Euro.
Am Nachmittag wurde der Polizei ein Lkw mit polnischem Kennzeichen gemeldet, der in auffallend unsicherer Fahrweise und mit überhöhtem Tempo auf der A 46 im Bereich Neuss unterwegs gewesen sein soll. Anhaltezeichen der Autobahnpolizei ignorierte er. Auf der A 1 geriet er zwischen Volmarstein und Hagen-West in den Gegenverkehr und kam laut Polizei nach der Kollision mit anderen Fahrzeugen zum Stehen. Seine Fahrt nach der ersten Meldung zog sich über etwa 60 Kilometer.
Nach der Chaosfahrt stellen sich viele die Frage, warum der Lkw so lange auf den Autobahnen 46 und 1 fahren konnte. Warum wurde er nicht von der Polizei gestoppt? Fragen und Antworten.
- Wer entscheidet über den Ablauf bei so einer Gefahrenlage?
- Warum haben sich keine Streifenwagen in den Weg gestellt?
- Warum wurden keine anderen Anhaltemittel, wie zum Beispiel Nagelbretter oder sogenannte Stop-Sticks eingesetzt?
- Warum wurde der Lkw nicht durch den Einsatz von Schusswaffen gestoppt?
- Und was ist mit dem Einsatz von Panzern oder großkalibrigen Geschossen?
Wer entscheidet über den Ablauf bei so einer Gefahrenlage?
Wenn wie am Samstag eine derartige Lage entsteht, entscheidet immer die Leitstelle über mögliche Maßnahmen. Auch weil in diesem Lagezentrum laut Rainer Wendt, dem Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund, die Leute eher mit kühlerem Kopf entscheiden. Dadurch wolle man unter anderem ausschließen, dass die Streifenwagen-Besetzung im "Jagdfieber" möglicherweise Gefahren ausblendet, sagte Wendt dem WDR.
Warum haben sich keine Streifenwagen in den Weg gestellt?
Ein Streifenwagen hätte die Wucht des Lasters nicht aufhalten können.
Ein weiteres, grundsätzliches Problem in dem konkreten Fall am Samstag: Die Polizei kannte den Weg nicht, den der Lkw nehmen wollte. Also auch wenn man mehrere Lkw zur Verfügung hätte, hätte man nicht gewusst, wo diese aufgestellt werden sollen.
Warum wurden keine anderen Anhaltemittel, wie zum Beispiel Nagelbretter oder sogenannte Stop-Sticks eingesetzt?
Speziell für den Hochgeschwindigkeitsverkehr auf Autobahnen sind Stop-Sticks dafür gedacht, die Reifen wie ein Nagelbrett zu durchlöchern. "Die Reifen verlieren dann langsam und kontrolliert Luft, sodass das Fahrzeug für den Flüchtenden steuerbar bleibt und sicher gestoppt werden kann", erklärt Hella Christoph von der Polizei Bielefeld. Dabei müsse man jedoch immer sicher stellen, "dass das zu stoppende Fahrzeug nicht andere gefährdet, zum Beispiel wenn der Lkw die Mittelleitplanke durchbrechen oder in den Gegenverkehr geraten könnte".
Zudem müsse man sicher stellen, dass keine anderen Verkehrsteilnehmer über diese Stop-Sticks fahren, so Marcel Fiebig von der Polizei Düsseldorf. Allein 50 Fahrzeuge waren bei der Chaosfahrt konkret in Unfälle verwickelt worden, viele weitere seien gleichzeitig mit dem Unfall-Lkw unterwegs gewesen. "Was wäre denn passiert, wenn dann eine Mutter mit ihren zwei Kindern wegen so einem Nagelbrett die Kontrolle über ihr Fahrzeug verliert und erst dadurch einen Unfall hat?", so Fiebig.
Warum wurde der Lkw nicht durch den Einsatz von Schusswaffen gestoppt?
"Wenn ein Mensch gezielt auf Menschen zufährt, um Menschen zu töten, dann ist die Schusswaffe das letzte Mittel", sagt Michael Mertens von der Gewerkschaft der Polizei NRW. Auf ein flüchtiges Fahrzeug zu schießen ist per Gesetz das gleiche, wie auf einen Menschen zu schießen, wie Kriminalhauptkommissarin Christoph weiter ausführt: "Die Voraussetzungen zum Schusswaffengebrauch müssten dabei in der Regel gegen jede im Fluchtfahrzeug befindliche Person vorliegen." Die Polizisten müssten also ausschließen können, dass zum Beispiel keine weitere Person im Lkw ist.
Dieser Lkw verursachte auf etwa 60 Kilometern auf der A46 und A1 eine Unfallserie.
Bild 1 / 12
Zudem sei es immer wieder vorgekommen, dass Krankheiten zu gefährlichen Fahrten mit Auto oder Lkw führen, zum Beispiel bei Diabetikern oder im Fall von Herz- oder Schlaganfällen, sagt Marcel Fiebig.
Ein weiterer Punkt beim Einsatz von Schusswaffen: Aus einem fahrenden Auto auf ein bewegliches Ziel zu schießen, sei fast immer eine unkontrollierbare Gefahrensituation für Unbeteiligte. "Zumal die Wirkung von der zur Verfügung stehenden Einsatzmunition mit der Geschwindigkeit eines zu stoppenden Kraftfahrzeuges proportional abnimmt", so Hella Christoph.
Und was ist mit dem Einsatz von Panzern oder großkalibrigen Geschossen?
Wenn ein Streifenwagen nicht ausreicht, um einen Lkw aufzuhalten und die Einsatzmunition der Polizei nicht geeignet ist, könnte man auf die Idee kommen, militärisch zu denken - beziehungsweise cineastisch, denn für die Polizisten, mit denen wir gesprochen haben, kommen diese Ideen eher aus dem Kino. Zum einen sei es eher unrealistisch, dass man in der Kürze der Zeit einen Panzer an genau die Stelle der Autobahnen setzen kann, wo der Lkw sicher durchkommt, zum anderen hat der Einsatz der Bundeswehr strenge Grenzen. Und darüberhinaus gelten für den Panzer die gleichen Probleme wie bei anderen möglichen Anhaltemitteln: Wie soll man ausschließen, dass da nicht andere Autofahrer hineinfahren?
In extremen Fällen, wie bei terroristischen Bedrohungen, kann die Bundeswehr im Inland eingesetzt werden. Das Grundgesetz erlaubt dies unter strengen Voraussetzungen, etwa bei einem "inneren Notstand". Allerdings ist der Einsatz militärischer Mittel, insbesondere gegen Zivilpersonen, rechtlich stark eingeschränkt. Beispielsweise hat das Bundesverfassungsgericht den Abschuss eines entführten Flugzeugs mit unschuldigen Passagieren als verfassungswidrig eingestuft.
Schwere Entscheidungen in risikoreichen Gefahrensituationen
Alle von uns befragten Polizisten haben darauf hingewiesen, dass bei allen Maßnahmen gegen eine Gefahr, auch immer auf die Verhältnismäßigkeit geachtet werden muss, die Gefährdung Unbeteiligter muss ausgeschlossen werden und auch die Polizisten selbst dürfen sich nicht gefährden.
Die Polizei habe in solch einer Situation eine hochdynamische Lage zu bewältigen und müsse alle Faktoren entsprechend ihrem gesetzlichen Auftrag zur Gefahrenabwehr bei ihren Entscheidungen bedenken, so Hauptkommissarin Christoph.
Aus diesem Grund werden zum Beispiel auch Raser nicht ohne Rücksicht auf Verluste durch die Straßen gejagt. Pkw könne man ja zum Beispiel abdrängen, so Rainder Wendt von der DPoIG, aber es gebe auch Situationen, in denen die Verfolgung abgebrochen wird, wenn die Gefährdung von unbeteiligten nicht ausgeschlossen werden kann.
Unsere Quellen:
- Michael Mertens, GdP NRW
- Rainer Wendt, DPoIG
- Hella Christoph, Polizei Bielefeld
- Marcel Fiebig, Polizei Düsseldorf
- dpa