Rahmedetalbrücke: Hendrik Wüst will nicht verantwortlich sein
Stand: 24.01.2023, 14:55 Uhr
Seit Monaten wird über die Frage gestritten, wer das Debakel um die Sperrung der Rahmedetalbrücke politisch zu verantworten hat. Antworten blieb der Ministerpräsident auch am Dienstag schuldig. Eine Rekonstruktion.
Von Tobias Zacher
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat am Dienstag Vorwürfe der Opposition zurückgewiesen, seine Landesregierung habe rechtswidrig Mails gelöscht. "Es gibt klare Regeln zur Veraktung wesentlicher Dinge und an die wird sich gehalten. Nach meinem Kenntnisstand ist sich da auch in dem Fall dran gehalten worden", sagte Wüst am Mittag vor der versammelten Landespressekonferenz.
Aktuelle Stunde im Landtag, Sondersitzung des Verkehrsausschusses
Im Streit um die e-Mails geht es um die Frage, wer die Verantwortung dafür trägt, dass der Neubau der Rahmedetalbrücke in den Jahren vor ihrer Sperrung immer weiter verschoben wurde. Der Ministerpräsident geriet zuletzt in der Angelegenheit zunehmend unter Druck. Am Mittwoch befasst sich der Landtag in einer Aktuellen Stunde mit dem Thema, eine Sondersitzung des zuständigen Verkehrsausschusses soll spätestens bis Mitte Februar stattfinden.
Für die Menschen vor Ort ist die Sperrung der Rahmedetalbrücke, die seit über einem Jahr andauert, eine Katastrophe: 6.000 LKW kriechen seitdem jeden Tag durch Lüdenscheid und angrenzende Orte, vorsichtige Schätzungen gehen von einem wirtschaftlichen Schaden von täglich einer Million Euro aus. Dieser Zustand wird noch Jahre andauern, nach jüngsten Schätzungen bis 2026 oder länger.
Das politisch Brisante ist: Dieses Ausmaß wäre vermeidbar gewesen. Und Hendrik Wüst hat in den vergangenen Monaten mindestens ein wackliges Verhältnis zur Wahrheit gezeigt beim Versuch, die politische Verantwortung dafür von sich zu weisen. Die Opposition spricht gar von Vertuschungsversuchen und dem rechtswidrigen Löschen der Mails.
Neubau immer weiter verschoben - wer ist verantwortlich?
Ein Ersatzneubau der Rahmedetalbrücke war nämlich bereits 2016 beschlossene Sache. Schon damals war die Brücke erkennbar durch die immer massivere Verkehrsbelastung in Mitleidenschaft gezogen worden. Avisierter Start für den Neubau war 2019.
Dieser Neubau wurde aber immer weiter nach hinten verschoben - bis im Dezember 2021 plötzlich auffiel, dass die alte Brücke so marode ist, dass sie von heute auf morgen gesperrt werden musste. Für die neue Brücke gab es zu diesem Zeitpunkt nicht einmal eine konkrete Vorplanung. Seitdem leiden die Menschen in Südwestfalen und alle, die durch die Region müssen, unter der Vollsperrung.
Immer wieder Ungereimtheiten
Aus welchem Grund der Neubau nach hinten verschoben wurde und in wessen Verantwortung diese verhängnisvolle Entscheidung fällt, darüber diskutiert die Politik seit Oktober. Damals hatte die Nachrichtenseite "T-Online" erstmals über Ungereimtheiten berichtet. Diese Ungereimtheiten lassen sich inzwischen in vier konkreten Punkten zusammenfassen.
1. Aufschieben des Neubaus fällt vollständig in Wüsts Amtszeit
Unterlagen, die dem WDR vorliegen, belegen: Die Entscheidungen, den Neubau der Brücke immer weiter aufzuschieben, fallen vollständig in Hendrik Wüsts Amtszeit als Verkehrsminister. Gleich doppelt heikel ist das für den Ministerpräsidenten, weil er im Wahlkampf vergangenen Jahres so tat, als sei das gar nicht der Fall.
In einem Interview mit dem Westfälischen Anzeiger am 08. April 2022 fragte der Reporter der Zeitung den Ministerpräsidenten: "Der Großraum Lüdenscheid wird durch die gesperrte Autobahnbrücke auf Jahre hin schwer belastet. Sie waren selbst Verkehrsminister im Land. Haben auch Sie etwas versäumt?" Wüst antwortete darauf mit dem Satz: "Wann welches Bauwerk saniert wird, ist eine fachliche Entscheidung, die im Übrigen vor meiner Amtszeit getroffen wurde."
Der rhetorische Kniff, den Wüst hier anwendet, nennt sich "überspezifisches Dementi": Er wurde nach politischen Versäumnissen gefragt. In seiner Antwort tut er aber so, als sei er explizit nach einer Sanierung der Brücke gefragt worden - und weist dafür die Verantwortung von sich. Dieser Trick sollte in den Monaten danach noch wichtig werden.
Aus den internen Unterlagen des Verkehrsministeriums geht nämlich Folgendes hervor: Der Neubau der Rahmedetalbrücke war jahrelang für 2019 angesetzt - auch noch, als Wüst im Juni 2017 den Job des Verkehrsministers übernommen hatte. In Unterlagen, die für Wüst bestimmt sind, ist im September 2017 vermerkt: Voraussichtlicher Baubeginn 2019, voraussichtliches Bauende 2023.
Doch dann, mitten in Wüsts Amtszeit, beginnt der geplante Neubau immer weiter nach hinten zu wandern: Im März 2018 wird er auf das Jahr 2020 terminiert, im November 2019 findet sich als geplanter Neubau-Beginn plötzlich das Jahr 2022. So steht es in einem Vorbereitungs-Papier für den damaligen Verkehrsminister Wüst, der an einem Gespräch zu Verkehrsprojekten im Kreis Siegen-Wittgenstein teilnehmen sollte. In einem weiteren Dokument des Verkehrsministeriums vom November ist schließlich vom Baubeginn erst 2025 die Rede.
Am Dienstag in der Landespressekonferenz wurde Wüst angesichts dieser Erkenntnisse wieder mit seiner Aussage vom April im Westfälischen Anzeiger konfrontiert. Wie das wohl zusammenpasse, wollten Journalisten wissen. Wüsts Antwort ist spitzfindig: Er habe ja nur über eine früher einmal geplante "Sanierung" gesprochen, zu einem "Neubau" habe Wüst sich gar nicht geäußert, sagt er. Wüsts überspezifisches Dementi vom April - es erscheint rückblickend als geschickter Kniff, der ihn seitdem davor bewahrt, der Lüge überführt zu werden.
2. Wüst wollte nicht einräumen, dass er von Aufschub des Neubaus wusste
Im Herbst war die Opposition bereits auf ähnlich lautende, wacklige Aussagen des Ministerpräsidenten aufmerksam geworden. SPD und FDP wollten wissen, ob Hendrik Wüst in das verhängnisvolle Aufschieben des Neubaus involviert war oder zumindest davon wusste. Eine Antwort bekamen sie nicht.
Am 02. Dezember dann gibt Wüst dem Westfälischen Anzeiger wieder ein Interview. Wieder fragt der Reporter ihn nach seiner Verantwortung für das Debakel um die Rahmedetalbrücke. Wüst sagt, die Reihenfolge solcher Projekte würde festgelegt "aufgrund fachlicher Entscheidungen von Experten, die trifft man nicht politisch". Der Reporter fragt noch einmal nach: Ob er denn vom Verschieben des Neubaus zumindest Kenntnis hatte? Wüst weicht aus: "Es ist keine politische Entscheidung, sondern eine rein fachliche Entscheidung der Experten", antwortet der Ministerpräsident.
Die internen Unterlagen aus dem Verkehrsministerium sind eindeutig: Die verschobenen Neubau-Daten finden sich in gleich mehreren Schriftsätzen, die für Wüst bestimmt waren. Am Dienstag räumte Wüst angesichts dessen in der Landespressekonferenz ein: "Bei solchen Projekten gibt es immer wieder einen Sachstandsbericht über den Projektfortschritt. Das wird auch hier so gewesen sein. Das Ministerium wird über sowas informiert". Die Frage, ob und wann er im Fall der Rahmedetalbrücke konkret von den immer weiter nach hinten rückenden Neubau-Daten erfuhr, beantwortete Wüst nicht.
3. Verkehrsministerium hatte doch Unterlagen zur Kenntnis Wüsts
Diese Unterlagen aus dem Verkehrsministerium lassen auch Aussagen des heutigen Verkehrsministers Oliver Krischer (Grüne) in keinem günstigen Licht erscheinen. Ihn hatte der SPD-Abgeordnete Frederick Cordes im Plenum des Landtags am 02.11.2022 gefragt, "wann der damalige Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst, erstmals vom Planungsstopp zum Neubau der Brücke erfahren hat".
Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne)
Krischer antwortete, ihm lägen "die Unterlagen in Folge des Übergangs in die Zuständigkeit der Autobahn GmbH ab dem 01.01.2021 nicht vor, wie mir das die zuständige Fachabteilung heute noch einmal versichert hat. Ich bedaure insofern sehr, Ihre Frage nicht beantworten zu können."
Genau solche Unterlagen aus dem Verkehrsministerium bekam der WDR jedoch in dieser Woche zugespielt. Auf Pressenachfragen, wie das zusammenpasse mit Krischers Aussagen vom November, reagierte das Verkehrsministerium beschwichtigend: Mehrere Anfragen von Parlamentariern in der Sache hätten unterschiedliche Fragestellungen und Abfragezeiträume gehabt. Entsprechend seien sie beantwortet worden. "Nachträglich aufgetauchte Unterlagen gab es nicht", so das Ministerium.
4. E-Mails gelöscht, Opposition protestiert
Am vergangenen Wochenende schließlich stellte sich heraus, dass sowohl in der Staatskanzlei als auch im Verkehrsministerium e-Mails gelöscht wurden, die Aufschluss darüber geben könnten, inwieweit Wüst selbst oder enge Mitarbeiter von ihm involviert waren in die Entscheidung, den Neubau der Rahmedetalbrücke aufzuschieben.
Dieser Mail-Verkehr über den Zustand der Brücke aus dem Jahr 2020 zwischen dem Landesbetrieb Straßen.NRW, der Staatskanzlei und dem Verkehrsministerium ist unauffindbar. Das bestätigt eine Sprecherin der Staatskanzlei auf WDR-Nachfrage. Bis zu dem Punkt, ab dem die Mails gelöscht wurden, liegt dem WDR der Schriftverkehr vor. Am 18. Mai 2020 heißt es dort in einer Mail von Straßen.NRW: Der Ersatzneubau der Rahmedetalbrücke "kann frühestens 2026 beginnen, da hier eine Planfeststellung erforderlich wird". Informationen über die Rahmedetalbrücke angefordert hatte Thomas Dautzenberg, der damalige Büroleiter Hendrik Wüsts im Verkehrsministerium. Dass die entsprechende Information also an Dautzenberg weitergegeben wurde, erscheint sehr wahrscheinlich.
Damit wäre diese Information im engsten Mitarbeiterzirkel von Hendrik Wüst angekommen. Nachweisen lässt sich das jedoch nicht: Exakt ab dieser Stelle sind die E-Mails gelöscht, ihr Verbleib kann "nicht mehr nachvollzogen werden", wie es die Staatskanzlei formuliert. Diese Löschaktion war die jüngste Enthüllung in der Sache, daraufhin beantragte die Opposition die Aktuelle Stunde für das Landtagsplenum am Mittwoch.
Warum mauert Wüst weiterhin?
Bleibt die Frage, warum Hendrik Wüst bis zuletzt mauert zu den Fragen seiner Kenntnis oder gar einer möglichen Beteiligung in Sachen "Verschobener Neubau der Rahmedetalbrücke". Einen Hinweis hierzu könnte ein Bericht von T-Online geben: Darin wird die Aussage eines "Insiders" wiedergegeben, laut dem es in den zuständigen Behörden "nicht genug Personal für parallele Planfeststellungsverfahren entlang der Sauerlandlinie" A45 gegeben habe.
Sollte diese Aussage zutreffen und tatsächlich Personalmangel der Grund dafür sein, dass der Neubau der Rahmedetalbrücke immer weiter verschoben wurde, dann hätte das ein NRW-Verkehrsminister in den vergangenen Jahren schlicht öffentlich einräumen können. Es hätte sich aber vermutlich nicht gut im Karriereplan eines hoch motivierten Politikers gemacht, der sich als Macher inszeniert und der kurz nach seinem Amtsantritt einen "Masterplan" für Bundesfernstraßen vorgestellt hatte.