Regenbogenflagge vor blauem Himmel

Studie zu queerem Leben in NRW: So geht es den Menschen

Stand: 25.04.2025, 13:18 Uhr

Zum ersten Mal hat das Land eine umfassende Befragung unter LSBTIQ* Menschen in NRW durchgeführt. Das Ergebnis ist durchwachsen.

Von Nina Magoley

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Es ist die erste Erhebung dieser Art für NRW: Die Studie "Queer durch NRW – Lebenslagen und Erfahrungen von LSBTIQ*" erfasst erstmals die Lebenssituation queerer Menschen im bevölkerungsreichsten Bundesland. Auch die Anfeindungen, die diese Community erlebt, sind in dem 271 Seiten starken Bericht beschrieben, ebenso wie Altersaspekte und Einwanderungsgeschichte.

Die bundesweit größte Studie dieser Art wurde vom NRW-Gleichstellungsministerium in Auftrag gegeben, Ministerin Josefine Paul (Grüne) stellte sie am Freitag in Düsseldorf vor. Demnach dürfte rund jeder zehnte der gut 18 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen schwul, lesbisch, bisexuell, asexuell, trans, inter, nicht-binär oder queer sein. Das wären 1,8 Millionen LSBTIQ*.

Befragt wurden insgesamt 6.172 queere Menschen und ihre Angehörigen. Außerdem gab es den Verfassern zufolge Onlinebefragungen von mehr als 5.000 Fachkräften - etwa Polizei, 16 Interviews mit Experten und Expertinnen und mehrere Diskussionsrunden.

Die Ergebnisse kurz zusammengefasst:

Immerhin zwei Drittel der Befragten bezeichnen ihre queere Lebensituation in NRW als "positiv". 80 Prozent machen sich allerdings Sorgen um ihre Zukunft. "Eine bemerkenswerte Gleichzeitigkeit" nannte Ministerin Paul das. Das Ergebnis zeige, dass in NRW "gelebte Vielfalt Realität ist". Es gelte aber aufzupassen: "Diese Vielfalt ist keine Selbstverständlichkeit."

Von den 5.300 Teilnehmenden bezeichneten sich 70 Prozent als Mann oder Frau. Knapp ein Drittel ordnete sich anderen Lebensweisen zu: nicht-binär (7,1 Prozent), nicht-binär und trans (4,8 Prozent), nicht-binär und inter (0,2 Prozent). Viele trans-Befragte verorteten sich demnach auch binär: 3,5 Prozent als Trans-Mann und 2,8 Prozent als Trans-Frau.

Glossar: LSBTIQ+

  • LSBTIQ+: Steht für Lesbisch, Schwul, Bisexuell, Transsexuell/Transgender, Intergeschlechtliche und Queere Menschen und weitere Geschlechtsidentitäten
  • Cis: Männer oder Frauen, die sich mit dem Geschlecht, mit dem sie geboren wurden, identifizieren. Als Cis-Geschlechtlich kann man gleichzeitig heterosexuell, schwul, lesbisch, bisexuell oder anderes sein.
  • Transsexuell: Männer oder Frauen, die sich nicht mit dem Geschlecht, mit dem sie geboren wurden, identifizieren, sondern mit dem jeweils gegensätzlichen
  • Intersexuell: Bei intersexuellen Menschen ist nicht eindeutig, ob ihr Körper männlich oder weiblich ist, zum Beispiel aufgrund ihrer Organe oder der Hormone in ihrem Körper.
  • TIN: Steht für trans, inter und nicht-binäre Menschen
  • Nicht-binär/non-binär: Menschen, die sich keinem Geschlecht eindeutig zuordnen können, unabhängig von körperlichen Geschlechtsmerkmalen
  • Queer: Vereint grundsätzlich alle Menschen, die anders lieben oder fühlen als heterosexuelle Menschen.
  • Asexuell: Menschen, die kein Interesse oder nur selten das Bedürfnis danach haben, mit einem anderen Menschen intim zu werden

Gründe gegen ein Coming-out

Mehr als 80 Prozent der befragten LSBTIQ* gaben an, ihre Sexualität offen zu leben. Unter den trans-, inter- oder nicht-binär Lebenden waren es nur gut die Hälfte. Der häufigste Grund, seine Sexualität zu verstecken, ist demnach die Angst vor negativen Reaktionen - bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes. Jeder zehnte Mensch gab die Sorge darüber an, dass nahestehende Personen Schwierigkeiten bekommen könnten. Immerhin: Nur gut sieben Prozent sagten, sie hätten niemanden, der sie bei einem Coming-out unterstützen würde.

Diskriminierung und Anfeindung

Zwei schwule Männer halten an den Händen. Im Hintergrund eine Regenbogenflagge.

Eher selten: Händchenhaltende Männer

Die Hälfte der Befragten erinnerte sich, in den vergangenen fünf Jahren Diskriminierung aufgrund der eigenen sexuellen Identität erfahren zu haben - je jünger, desto häufiger. Ein Drittel fühlt sich im öffentlichen Raum eher unsicher. Eine deutliche Mehrheit gab an, an ihrem Wohnort bestimmte Straßen, Plätze oder Parks zu meiden. Der Großteil der schwulen Männer verzichtet lieber darauf, in der Öffentlichkeit mit dem Partner Händchen zu halten.

Die allermeisten Betroffenen nehmen das aber offenbar einfach hin: Nur in den seltensten Fällen wurden Übergriffe bei der Polizei angezeigt. Als Grund dafür nannten viele die Sorge, auch von Polizisten diskriminiert zu werden.

Eine Antwort, die aufhorchen lassen sollte: Viele der Befragten blicken mit deutlicher Sorge in die Zukunft. Mehr als 80 Prozent sagten, sie befürchteten eine Verschlechterung der Situation von LSBTIQ* in NRW.

"Akzeptanz in der Gesellschaft ist hoch"

Benjamin Kinkel

"Am Scheideweg": Benjamin Kinkel

"Hass und Hetze gegen queere Menschen werden bewusst geschürt, vor allem im Netz und von rechtsextremen Netzwerken und Parteien", sagt auch Benjamin Kinkel, Geschäftsführer des Queeren Netzwerk NRW. Gleichzeitig sei die Akzeptanz von queeren Menschen in der Gesellschaft aber hoch. Die Lebenslagenstudie zeige auch, dass eine große Mehrheit von Fachkräften in den zuständigen Bereichen bereit sei, sich zu queeren Themen fortzubilden. "Das macht Mut!", so Kinkel.

"Ich glaube, dass wir an einem Scheideweg stehen: Was wir jetzt brauchen, ist eine politische Offensive gegen Queerfeindlichkeit in NRW. Wenn das gelingt - und es muss zügig gelingen - bleibe ich optimistisch." Benjamin Kinkel, Geschäftsführer Queeres Netzwerk NRW

Transfrauen unter Druck

Auch beim Verein KCM in Münster, der seit 1985 queere Menschen berät, macht man sich Sorgen mit Blick auf die queerfeindliche Stimmung in den USA und in Großbritannien. Dort hatten Gerichte entschieden, dass Transfrauen keine Frauen seien. Es gebe nur Männer und Frauen, keine Transgeschlechtlichkeit. "Das ist Wasser auf die Mühlen aller queerfeindlichen Menschen auch hierzulande", sagt Rebecca Broermann, Queerberaterin beim KCM.

Transfrauen erlebten zunehmend kritische Nachfragen: "Wie kann das sein? Ist das eine richtige Frau?". Wenn rechtsextreme Kräfte in Deutschland an Macht gewinnen würden, fürchtet Broermann, könnte die Stimmung gegen LSBTIQ* wie in den USA auch in Deutschland kippen.

"Rechte Kräfte mit viel Geld"

Man beobachte, dass "rechte Kräfte auch in Deutschland mit viel Geld Queerfeindlichkeit organisieren", sagte Christina Rauh, die als Wissenschaftlerin Mitautorin der Studie ist, am Freitag. Zum Beispiel in Chaträumen oder mit Chatbots werde eine Stimmung gepusht, deren Ziel es sei, die Rechte von queeren Menschen zurückzuschrauben. In einigen Bundesländern habe der Verfassungsschutz solche Umtriebe bereits im Blick.

Queer-Gesundheit und Alter

Zwei Drittel aller LSBTIQ* schätzen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein - besonders die cis-Männer. Gleichzeitig berichtete jede zweite Person, von einem Arzt schon mal eine Depression bescheingt bekommen zu haben.

Die Mehrheit der LSBTIQ*-Community fühlt sich von Medizinern gut und respektvoll behandelt. Bei Trans- und Inter-Personen ist die Wahrnehmung allerdings anders: Fachkräfte reagierten demnach insgesamt häufiger unangemessen auf die geschlechtliche Identität, es gebe seltener kompetente Beratung. TIN sehen sich daher oft nicht gleichberechtigt bei der Gesundheitsversorgung im Vergleich zu anderen Menschen.

Andere Bereiche

Am ehesten positive Erfahrungen mit ihren Mitmenschen machen LSBTIQ* im Umfeld von Freizeit-, Kultur- und Ehrenamtsaktivitäten, auch in den Hochschulen und im Bereich der Sozialarbeit. Die häufigsten negativen Erfahrungen werden berichtet aus dem Umfeld von Schule, Ämtern und Behörden sowie im Sport.

Fast zwei Drittel aller, die in den vergangenen fünf Jahren eine Schule in NRW besucht haben, geben an, dass abwertende Äußerungen über sie gemacht wurden. Neben verbaler Diskriminierung wird auch körperliche Gewalt rückgemeldet. LSBTIQ*-Personen beklagten außerdem, dass sie mit ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität in Schulbüchern und im Unterricht kaum vorkämen.

Benjamin Kinkel vom Queeren Netzwerk NRW sieht mehr Handlungsbedarf - vor allem angesichts der Diskriminierungserfahrungen von Trans, Inter und nicht-binären Menschen. "Auch im Gesundheitssystem, in der Pflege, der Psychologie oder den Schulen ist die Diskriminierung von queeren Menschen weit verbreitet. Das ist inakzeptabel in einer Demokratie, die sich ja immer auch auf die Würde und die Menschenrechte bezieht." Die Landesregierung sei nun "in der Pflicht, Maßnahmen zur Eindämmung und Prävention umzusetzen".

Das Land NRW fördert sieben psychosoziale Beratungsstellen: in Bielefeld, Bochum, Dortmund, Köln, Münster, Siegen, außerdem eine mobile Beratung im Raum Niederrhein/westliches Ruhrgebiet. Auf der Homepage des Ministeriums sind weitere Anlaufstellen aufgelistet. Im Haushaltsplan für 2025 sind die Mittel für diese Projekte freier Träger allerdings um 417.000 Euro von 3.215.800 auf 2.798 800 gekürzt worden.

Queer mit Migrationsgeschichte

Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden erster und zweiter Einwanderungsgeneration beschreibt sich als cisgeschlechtlich - also eindeutig als Mann oder Frau. 30 Prozent der LSBTIQ* zweiter Einwanderungsgeneration identifizieren sich als TIN.

LSBTIQ* mit Migrationshintergrund sehen sich offenbar doppelt benachteiligt: Ein Fünftel schätzt die eigenen Chancen, eine kompetente Gesundheitsversorgung zu erhalten, eine Wohnung zu mieten oder Vermögen aufzubauen, als deutlich geringer ein als der Durchschnitt aller befragten LSBTIQ*.

Schwierig ist offenbar die Situation für aktuell Geflüchtete: In Not- und Übergangsunterkünften herrsche eine belastende Atmosphäre, sagten viele. Community-Angebote für geflüchtete LSBTIQ* seien aber sehr hilfreich dabei, Anschluss zu finden und sich akzeptiert zu fühlen.

Quellen:

  • Studie "Queer durch NRW – Lebenslagen und Erfahrungen von LSBTIQ*" der Landesregierung NRW
  • WDR-Interview mit Benjamin Kinkel, Queeres Netzwerk NRW
  • WDR-Interview mit Rebecca Broermann, Queerberaterin beim KCM

Über dieses Thema berichtet der WDR Hörfunk am 25.04.2025 auch im Mittagsecho um 13.30 Uhr.

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