Für Tim Kundt ist wenige Tage vor Schulbeginn klar: "Wir brauchen als Lehrkräfte eine Sicherheit bei diesem Thema, damit keine Zustände wie in Berlin-Neukölln aufkommen." Kundt ist Realschullehrer in Mülheim. Dem Schulstart kommende Woche sieht er mit Spannung entgegen: "Es wird Einzelne oder Gruppen geben, die sich auf Seiten der Hamas stellen", befürchtet er. Er hofft deshalb, dass die Schulleitungen gut vorbereitet werden.
SPD fordert mehr Zeit und Ruhe in den Klassen
Das hofft auch Stephan Osterhage-Klingler von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) NRW. "Die Unsicherheit gibt's bei vielen Kollegen", weiß er. Umso dringender bräuchte es einen Handlungsrahmen. Schulministerin Dorothee Feller (CDU) hat zwar schon angekündigt, die Schulen bei Bedarf zu unterstützen: "Um den Schulen im Umgang mit diesem schwierigen Thema zu helfen, werden wir die Situation in den kommenden Tagen weiter beobachten und ihnen bei Bedarf unterstützendes Material zur Verfügung stellen", kündigte Feller an. Doch das reicht vielen nicht.
Jochen Ott, SPD-Oppositionsführer im Düsseldorfer Landtag, fordert etwa deutlich mehr Zeit und Ruhe in den Schulen, damit über den Nahost-Konflikt gesprochen werden kann. "Ich halte es für zwingend, dass wir nicht zur Tagesordnung oder Klassenarbeit übergehen", so Ott. "Wir können davon ausgehen, dass die Brutalität dieses Massakers bei vielen Jugendlichen auf den Smartphones gelandet ist." Deshalb rechnet auch er mit erhöhtem Gesprächsbedarf in den Klassen.
Lehrer-Gewerkschaft: "Thema nicht totschweigen"
Aber wie und wo spricht man am besten über das Thema? Darin sind sich selbst Experten nicht einig. Stephan Osterhage-Klingler von der GEW-NRW rät dazu, das Thema offensiv "im geschützten Raum der Klasse" aufzugreifen und es somit "nicht totzuschweigen". Dadurch könnten vielleicht auch Konflikte auf dem Pausenhof aufgefangen werden, hofft Osterhage-Klingler.
Dass das nicht einfach wird, weiß er auch: "Das Thema ist natürlich extrem komplex. Und es gibt nicht die eine Antwort." Zudem könne man keine Ratschläge für alle Jahrgangsstufen geben. "Ich glaube, da kennt jede Lehrkraft ihre Klasse ganz gut und hat auch eine Idee dazu, wie sensibel die Schülerinnen und Schüler sind."
Psychologe warnt vor Stich ins Wespennest
Uwe Sonneborn ist Psychologe und Mitglied im Vorstand des Landesverbandes Schulpsychologie NRW. Im Konfliktfall berät er Schulen, Eltern und auch Schülerinnen und Schüler in NRW. "Ich würde den Lehrkräften eher raten, defensiv ranzugehen, das heißt das Thema keinesfalls aufzuzwingen", rät Sonneborn. Denn: "Je nach nachdem, in welcher Jahrgangsstufe oder in welchem schulischen Umfeld man sich bewegt, könnte man in ein Wespennest stechen, wenn man das Thema öffnet", warnt der Psychologe. Schließlich gebe es auch Menschen, die den Antisemitismus "mit der Muttermilch aufgesogen" hätten. "Und wenn man dieses Thema nun unbedacht öffnet, läuft man Gefahr, dass das ein Prozess ist, der einem aus der Hand gleitet."
Vorsicht bei persönlicher Betroffenheit
Besonders Lehrkräfte, die persönliche Beziehungen zum Konflikt haben, sollten sich eher nicht auf das Thema einlassen, meint Sonneborn. In der Notfallpsychologie gelte der eiserne Grundsatz: "Wenn du unsicher oder selbst betroffen bist, dann muss die Kollegin oder der Kollege ran", erklärt der Schulpsychologe.
"Wenn etwa ein Zweitklässler das Thema anspricht, dann sollte man schon antworten", erklärt Uwe Sonneborn. Allerdings müsse das nicht immer vor der gesamten Klasse geschehen. Bei einem einzelnen Interesse könne man das auch nach dem Unterricht besprechen, ansonsten auch in einer kleineren Gruppe.
Verstörende Videos auf Smartphones
Und wie sollten Lehrkräfte reagieren, wenn sie bemerken, dass verstörende Videos auf den Smartphones der Schülerinnen und Schüler kursieren? "Dann ist ein abgestimmtes Vorgehen in der Schule im Sinne einer gemeinsamen Haltung wichtig", betont Psychologe Sonneborn.
Nach Möglichkeit sollten hier alle Lehrkräfte und auch Schulsozialarbeiter eingebunden werden. Grundsätzlich rät Sonneborn zu einem differenzierten und sachlichen Umgang. "Und nicht auf der Ebene konkreter Videos." Denn das könne sehr beschädigend wirken. "Wenn ich eine Betroffenheit bei einer Schülerin oder einem Schüler feststelle, würde ich das auch nur mit denen besprechen, nicht mit der gesamten Klasse, also in einem geeigneten Rahmen." Man solle sich davor hüten, "das zu einem Flächenbrand zu machen".
Klare Regeln für den Schulalltag
Und wenn es in Pausen zu Konflikten kommt? "Dann ist viel Fingerspitzengefühl gefragt", weiß Stephan Osterhage-Klingler von der GEW-NRW. Hierbei könne etwa ein konkreter Handlungsrahmen helfen, der den Lehrkräften speziell auf diesen Konflikt passende klare Regeln an die Hand gibt: Was ist auf Schulhöfen erlaubt, was darf verboten werden? Nicht nur hier sei die Unsicherheit der Lehrkräfte hoch. "Ich habe grundsätzlich die Sorge, dass uns jetzt auf die Füße fällt, dass so etwas wie politische Bildung in den letzten Jahren in den Schulen - ich sag's mal vorsichtig - nicht gestärkt worden ist."