Islamistische Influencer: Zehn Millionen Likes auf TikTok
Stand: 14.05.2024, 14:56 Uhr
Der Islamismus sei in NRW "auf dem Vormarsch" - so das Fazit des "Lagebild Islamismus 2024". Demnach nutzen islamistische Akteure besonders die Sozialen Medien. Ermittler fischten teils "im Dunkeln", sagt Innenminister Reul.
Von Nina Magoley
Mitte April hatte die Polizei in NRW drei Jugendliche festgenommen, die gemeinsam mit einem Jungen aus Baden-Württemberg islamistisch motivierte Terroranschläge geplant haben sollen. Vergangenes Wochenende fand in Hamburg eine Demonstration der islamistischen Gruppierung "Muslim Interaktiv" in Hamburg statt, bei der ein Kalifat als Lösung gesellschaftlicher Probleme gefordert wurde.
In den sozialen Medien machen islamistische und salafistische "Prediger" massiv Propaganda für eine Radikalisierung - in deutscher Sprache.
Innenminister Herbert Reul
"Der Islamismus ist weiter auf dem Vormarsch" - so das teilweise düstere Szenario, das NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Dienstag in Düsseldorf mit dem neuen "Lagebild Islamismus 2024" vorstellte. Es bestehe derzeit eine "hohe abstrakte Gefahr" für terroristische Anschläge, NRW stehe weiter im Fokus der Jihadisten. Die Zahl islamistisch motivierter Straftaten hat sich im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr von 60 auf 305 mehr als verfünffacht.
Islam ist nicht gleich Islamismus
Eins erklärt das Ministerium in dem Bericht vorweg: Es sei wichtig, zwischen dem Islam als rechtlich geschützter Religion und Islamismus als extremistischer Ideologie zu unterscheiden. Der Islam als Religion werde vom Verfassungsschutz ausdrücklich nicht beobachtet, islamistische Bestrebungen dagegen schon. Und die sind vor allem seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 deutlich mehr in den Fokus gerückt.
"Islamisten instrumentalisieren den blutigen Konflikt", sagte Reul - auch, um "in der Mitte der Gesellschaft um Solidarität mit Palästina zu werden". In vielen Fällen verberge sich "unter dem Deckmantel der Solidarität aber nichts anderes als Judenhass".
Größte Gefahr: "Islamischer Staat Provinz Khorasan"
In dem Bericht wird unterschieden zwischen verschiedenen Gruppierungen im Islamismus, die der Verfassungsschutz in NRW beobachtet. Unter anderem ist das der gewaltorientierte "Extremistische Salafismus" und der "nicht-salafistische Islamismus". Beiden gemein sei eine "aggressive Ablehnung des Staates Israel", so heißt es im "Lagebild Islamismus 2024".
Die größte Gefahr, so Reul, gehe derzeit von der Gruppe "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) aus. Es gebe Anzeichen dafür, dass der ISPK auch komplexe, koordinierte Terrorangriffe in Europa plant. Im Dezember 2023 nahm die Polizei mehrere Verdächtige fest, die mutmaßlich im Auftrag des ISPK einen Anschlag auf den Kölner Dom geplant hatten.
Einzeltäter radikalisieren sich "im stillen Kämmerlein"
Schwerpunkte der islamistischen Aktivitäten macht der Bericht unter anderem in Bonn, Köln, Düren, Aachen, Wuppertal, Düsseldorf, Mönchengladbach, dem Ruhrgebiet und in Ostwestfalen-Lippe aus.
Eine weitere "Riesengefahr", so Reul, seien Einzelpersonen, die sich "im stillen Kämmerlein" radikalisierten. Da brauche nur "einen Funken", um eine spontane Tatbereitschaft auszulösen.
Problem: Propaganda über TikTok und Co.
Als wachsendes Problem beschreibt der Bericht die Beeinflussung junger Menschen durch Online-Propaganda und soziale Medien - vor allem auf TikTok, aber auch auf YouTube oder Instagram. Speziell Menschen "aus schwierigen persönlichen Verhältnissen" würden dort niedrigschwellig abgeholt, indem ihnen eine "simple und berechenbare" Lebenswelt suggeriert werde, aus der sich einfache Handlungsanweisungen ableiten ließen. Der Salafismus habe sich so geradezu als "Gegenkultur mit Lifestyle-Charakter" entwickelt.
In Videos treten salafistische Influencer demnach "betont locker" und mit Anspielungen auf Gangster-Rap und Kampfsport auf. Ihre Sprache sei einfach und verständlich - anstelle der früher üblichen theologischen Diskurse.
Einer der Akteure, Dehran Asanov, trete vorzugsweise in Sportkleidung auf und versuche in "leicht zugänglicher" Weise für einen extremistisch-salafistischen Islam zu werben. Frauen seien demnach Männern untergeordnet, dürften ihnen nicht widersprechen und hätten sich vollständig zu bedecken. Mit 460.000 Followern und deutlich mehr als zehn Millionen Likes allein auf TikTok ist Asanov dabei offenbar erfolgreich.
"Tötung von 'Ungläubigen' und 'Rache' gegen westliche Staatsbürger"
Besonders aus dem Spektrum des "extremistischen Salafismus" käme eine anhaltend hohe Bedrohung. Die Sicherheitsbehörden seien hier besonders gefordert, Anschlagsvorbereitungen aufzudecken. "Islamistisch-terroristisch motivierte Akteure" - auch das eine Erkenntnis - setzen zwar Gewalt ein, um religiös begründete Ziele zu erreichen - darunter die Tötung von "Ungläubigen" und "Rache" gegen westliche Staatsbürger. Dabei verfügten sie aber häufig nur über "geringes religiöses Wissen" und hätten oft auch keinen religiösen Lebenswandel - "insbesondere dann, wenn sie kriminell aktiv sind oder Betäubungsmittel konsumieren".
Die nicht-salafistischen Islamisten hingegen hätten das Ziel, als "repräsentative Vertreter muslimischer Interessen" zu agieren, um den Islam in Deutschland zu institutionalisieren.
Bezüge zur verbotenen Hizb ut-Tahrir
In vielen islamistischen Gruppierungen beobachtet der Verfassungsschutz Akteure, die Bezüge zur verbotenen Hizb ut-Tahrir (HuT) haben. Sie versuchten derzeit besonders aktiv, die Eskalation im Nahen Osten zu nutzen, um ihre islamistischen Botschaften zu verbreiten. Im November 2023 organisierte die HuT in Essen die bislang größte Demonstration mit 3.000 Teilnehmern. Israel wurde dabei als "faschistisches Regime" bezeichnet, auf Plakaten wurde ein Kalifat gefordert.
Bislang keine Bedrohung mit Bezug zur EM
Eine der wenigen positiveren Botschaften, die Reul am Dienstag mitbrachte: Für die bevorstehende Fußball EM gebe es bislang keine konkrete Bedrohungslage. Aber auch hier habe der Verfassungsschutz den ISPK "im Blick".
Wobei es mit diesem "im Blick haben" offenbar so eine Sache ist: Er sei manchmal geradezu ratlos, offenbarte Reul, wie die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Deutschland verbessert werden könnte. Auf der nächsten Konferenz der Innenminister wolle er noch einmal "dafür werben".
Verfassungsschutz "fischt im Dunkeln"
Es könne dauerhaft keine Lösung sein, dass die deutschen Behörden sehr oft erst von ausländischen Geheimdiensten von Anschlagsplänen hierzulande erführen - so, wie zuletzt bei dem geplanten Anschlag auf den Kölner Dom. Trotz Einrichtungen wie dem "Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) NRW beim Landeskriminalamt. "Wir müssen denen im Netz auf der Spur sein, wir brauchen deren IP-Adressen", klagte Reul. In Deutschland seien viele Ermittlungen aber durch Datenschutzregeln behindert.
Andere Länder seien da weniger gehemmt. Zwischen "alle Daten abgreifen und im Dunkeln fischen muss es noch etwas geben", meinte Reul. Bund und Länder müssten diskutieren, welche Möglichkeiten man dem Verfassungsschutz zusätzlich geben könnte.
Es sei "wichtig, dass die Sicherheitsbehörden die Szene weiterhin genau beobachten und konsequent einschreiten", sagte die innenpolitischen Sprecherin der Grünen Landtagsfraktion, Julia Höller, nach der Veröffentlichung des Berichts. Sie verwies auch auf Präventionsangebote wie die "Wegweiser"-Beratungsstellen des Landes, die eine Radikalisierung vor allem junger Menschen verhindern sollen.
Der Druck auf Plattformen wie TikTok oder Facebook müsse erhöht werden, "damit diese gegen jede Form von Hassreden – auch unterhalb einer Strafbarkeitsgrenze – konsequent vorgehen". Es habe "brandgefährliche Auswirkungen auf unsere Demokratie", wenn Desinformationen, Hass und Hetze durch Algorithmen begünstigt werden.
FDP fordert mehr Ausstattung für Verfassungsschutz
Für die FDP-Fraktion im Landtag sind die Möglichkeiten der Landesregierung aber offenbar noch lange nicht ausgeschöpft: "Wir fordern von Innenminister Reul und der schwarz-grünen Landesregierung größere Anstrengungen, um die Freiheit und Sicherheit in NRW zu gewährleisten", erklärte der innenpolitische Sprecher Fraktion, Marc Lürbke.
Die zunehmende Radikalisierung müsse "dringend gestoppt werden". Dazu vermisse die FDP "ein tragfähiges Konzept" für Prävention und Deradikalisierung. Der Verfassungsschutz brauche mehr Personal und Ausstattung, "um mit den Extremisten in sozialen Medien und Darknet Schritt halten können".
SPD: "Landesregierung schaut untätig zu"
Der SPD, ebenfalls in der Opposition, fehle die "klare Kante" der Landesregierung bei der Bekämpfung des Islamismus, sagte die innenpolitische Fraktionssprecherin Christina Kampmann. "Während salafistische Hassprediger von der Landesregierung unbehelligt ihre menschenverachtende Ideologie in nordrhein-westfälischen Moscheen verbreiten können, werben islamistische Influencer in sozialen Netzwerken um immer mehr Follower."
Die Landesregierung müsse sich die Frage stellen, ob sie hier "wirklich untätig zuschauen oder die Möglichkeiten des Rechts nutzen" wolle, um dagegen entschieden vorzugehen. Reul müsse sagen, "was er dazu beitragen kann, und nicht immer nur betonen, was alles nicht möglich ist".