Die höchste Repräsentantin der Evangelischen Kirche in Deutschland, Annette Kurschus, ist von ihrem Posten als Vorsitzende des Rates und als Präses der westfälischen Landeskirche zurückgetreten. Damit wolle sie Schaden von der Evangelischen Kirche abwenden, erklärte Kurschus am Montag.
Kurschus dementiert Vorwürfe
"Mir ist es niemals darum gegangen, Sachverhalte zu vertuschen oder einen Beschuldigten zu schützen“, sagte Kurschus am Vormittag bei einer Pressekonferenz in Bielefeld. Genau das hatten ihr Gemeindemitglieder in den vergangenen Tagen vorgeworfen.
Kurschus soll Ende der 1990er Jahre in einem persönlichen Gespräch von sexuellen Übergriffen eines Mitarbeiters des Kirchenkreises Siegen berichtet worden sein. Das haben zwei Zeugen eidesstattlich gegenüber der Siegener Zeitung versichert. Kurschus sei daraufhin nicht tätig geworden, so der Vorwurf.
Fokus auf die mutmaßlichen Opfer
"Statt um die Betroffenen geht es seit Tagen um meine Person", beklagte Kurschus heute: "Das muss aufhören." Eine Aufklärung der Vorwürfe finde sie richtig und wichtig.
Daran könne sie aber nicht mehr mitwirken. Denn ihr Amt als EKD-Ratsvorsitzende setze ein "hohes öffentliches Vertrauen in meine Person voraus", so Kurschus. "Das ist nicht mehr gewährleistet."
Sie deutete an, dass es zumindest aus Westfalen noch Unterstützung für sie gab. "Viele haben mich gebeten, im Präses-Amt zu bleiben“, so Kurschus, aber: "Es geht nicht."
Kommissarisch hat die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs den Ratsvorsitz übernommen. Beobachter sehen in ihr eine aussichtsreiche Kandidatin für die Nachfolge von Kurschus.
Der Superintendent des Siegener Kirchenkreises, Peter-Thomas Stuberg, erklärte am frühen Nachmittag, er habe Kurschus' Entscheidung mit großem Respekt aufgenommen. Die Situation sei für die Evangelische Kirche in Deutschland, die westfälische Landeskirche und den Evangelischen Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein sehr belastend.
"Hohe Verdienste als Theologin"
Stuberg mahnte an, dass es nicht die Zeit schneller Urteile oder einfacher Schuldzuweisungen sei. In seiner Erklärung lobte er Kurschus für ihre "hohen Verdienste als Theologin im Kirchenkreis und weit darüber hinaus" sowie als "Ausnahmepredigerin mit großer Orientierungskraft".
Er sicherte zu, den Sachverhalt lückenlos aufklären zu wollen und kündigte an, dass die Landeskirche eine externe Aufklärungskomission beauftragen werde.
Was wusste die Geistliche, und wann?
Bei der Synode in Ulm hatte Kurschus vor knapp einer Woche betont, sie weise die "Andeutungen und Spekulationen", die in der Siegener Zeitung gegen sie erhoben würden, mit Nachdruck zurück. Die Siegener Staatsanwaltschaft ermittelt in mehreren Verdachtsfällen gegen einen früheren Kirchenmitarbeiter, der in den 1990er Jahren wie Kurschus im Kirchenkreis Siegen tätig war.
Der ehemalige Kirchen-Mitarbeiter soll junge Männer zu sexuellen Handlungen gedrängt haben. Ob strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, ist laut Staatsanwaltschaft bisher ungeklärt. Im Kern geht es um die Frage, was die Geistliche wann von mutmaßlichen Verfehlungen des Beschuldigten gewusst hat.
Schüler-Lehrer-Verhältnis und Machtmissbrauch?
In einem Gespräch in Kurschus' Garten sollen ein Betroffener und drei weitere Personen der damaligen Pfarrerin von "sexuellen Verfehlungen" des Mitarbeiters berichtet haben.
Kurschus hatte dagegen diese Woche in einem Statement beteuert, ihr gegenüber habe es keine Hinweise auf sexualisierte Gewalt in dieser Zeit gegeben. In Gesprächen vor vielen Jahren sei lediglich die sexuelle Orientierung des Beschuldigten thematisiert worden.
Tim Plachner, Redakteur der Siegener Zeitung, sagte dem WDR, er habe mit mehreren Betroffenen gesprochen, die von sexuellen Handlungen erzählt hätten. In Kurschus’ Garten sei es damals explizit um sexuelle Verfehlungen gegangen: "Es ist auch die Rede von einem Schüler-Lehrer-Verhältnis, so dass man von einem Machtmissbrauch ausgehen kann."
Für diese Aussagen liegen der Siegener Zeitung nach eigenen Angaben eidesstattliche Versicherungen von zwei Teilnehmern des Gartengesprächs vor.
Vorwurf der Nähe zum Beschuldigten
Kritisiert wird Kurschus auch für Aussagen dazu, wie nahe sie dem Beschuldigten stehe. Auf einer Pressekonferenz in Ulm hatte sie vergangenen Sonntag auf die Frage, ob sie den Beschuldigten kenne, bestätigt: Ja - und dass in Siegen jeder jeden kenne.
"Entsetzt und wütend"
Am Dienstag, nur zwei Tage später, räumte sie dann vor einer Versammlung der EKD in Ulm ein, dass sie ein sehr enges Verhältnis zum Beschuldigten habe: "Ich bin entsetzt und wütend, aktuell so furchtbare Schilderungen über eine Person zu erfahren, von der ich bislang nur ein anderes Gesicht wahrgenommen hatte."
Dass sie Patentante eines der Kinder des mutmaßlichen Täters sei, dürfe sie aus rechtlichen Gründen nicht bestätigen, sagte sie auf die Frage einer Delegierten.
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