Buchcover: "Schwalbenschrift" von Ilse Helbich

"Schwalbenschrift" von Ilse Helbich

Stand: 04.12.2024, 10:05 Uhr

Ein Debüt mit 80 Jahren – 2003 erschien Ilse Helbichs Roman "Schwalbenschrift. Ein Leben von Wien aus". Die greise Jungautorin sorgte damals für Furore. In diesem Jahr starb Helbich im Alter von 100, und ihr später Erstling erscheint nun in einer Neuausgabe. Eine Rezension von Ulrich Rüdenauer.

Ilse Helbich: Schwalbenschrift. Ein Leben von Wien.
Aus Literaturverlag Droschl, 248 Seiten, 24 Euro.

Vor drei Jahren erschien ein schmaler Band mit dem Titel "Gedankenspiele über die Gelassenheit". Die Autorin, Ilse Helbich, war damals 98 Jahre alt, und wenn jemand über dieses Thema schreiben konnte, dann sie. Mit rund 60 hatte sie noch einmal ein neues Leben begonnen, sich aus ihrer langen Ehe verabschiedet, ein renovierungsbedürftiges Gebäude im niederösterreichischen Schönberg am Kamp gekauft und zum ersten Mal einen Ort für sich gehabt. "Ein Zimmer für sich allein" heißt ein berühmter Essay von Virginia Woolf, der zu einem Manifest feministischer Literatur geworden ist und von den Voraussetzungen handelt, die Frauen das Schreiben ermöglichen. Als Ilse Helbich, die promovierte Germanistin und Journalistin, nicht nur ein Zimmer, sondern ein ganzes Haus für sich allein hatte, begann ihr drittes, gelassenes Leben – und sie schrieb einen Roman, der im Jahr ihres 80. Geburtstages erschien. Dieses Buch, "Schwalbenschrift. Ein Leben von Wien aus", wird nun, mehr als zwanzig Jahre später und nachdem die Autorin Anfang dieses Jahres mit 100 gestorben ist, noch einmal neu aufgelegt. Das ist ein großes Glück für uns Leser, denn der spätberufenen Autorin gelang damit ein poetisches, wunderschön unprätentiöses, souverän ungeschöntes Selbstporträt und Selbstgespräch darüber, wie Familie und Zeitläufte das Leben prägen und ein unerklärlicher Eigensinn den Rahmen des Vorgegebenen sprengt.

"Splitterbilder. Dazwischen nichts", heißt es gleich zu Anfang dieses Buches – aber das ist nicht ganz richtig: Denn zwischen den Zeilen ist viel, und die Erinnerungssplitter fügen sich zum Bild einer vergangenen Epoche. Die Geschichte des Kindes, 1923 in großbürgerliche Verhältnisse hineingeboren, verdichtet sich von Szene zu Szene zu einem Lebensroman voller Ein- und Widersprüche, Versäumnisse und Ausbrüche. Die Distanz der Erzählerin zum Erzählten ist eine zeitliche, aber dem Gefühl der Nähe zum Geschehenen kann das nichts anhaben. Nah sind die Räume der Kindheit, ist die niemals „hand- oder hautnahe“ Mutter, von der Gebote und Verbote ausgehen; nah ist der abwesende Vater, der anwesend ist in seiner strengen Ordnung; am nächsten aber ist ein anderer: Der Großvater…

"…klein, untersetzt, mit lebhaften Augen und einem Schnurrbart, den der Friseur, der jeden Morgen ins Haus kommt, nach der Wangenrasur sorgfältig gebürstet, hochgezwirbelt und hinter einer eindrucksvollen Bartbinde fixiert hat, ist der aus der Familie, den das Mädchen liebt."

In vielen Details versetzt uns Helbich ins Wien der Zwischenkriegszeit, erzählt von glücklichen Stunden und dem Gefühl des Fremdseins, das sie zu Hause immer stärker überkommt. Wir erleben das Backfischalter mit, Schwärmereien, die Wunder des Erkennens, des ersten Sehens und des Sehnens.

"Wenn sie zurückschaut, begreift die alte Frau, die sie jetzt ist, dass sie in diesen Jugendjahren zu der Schönheit, die für das kleine Kind zuerst in den Gärten aufging, damals das Lebendigsein als Schatz erkennen durfte: nicht nur am Leben zu sein, sondern sein ureigenes Leben in jedem Augenblick mit aller Kraft und aller Freude zu leben."

Ihre Verirrungen zur Zeit des Nationalsozialismus spart Helbich nicht aus. Sie enden in einem nicht ungefährlichen Trotz – einmal verweigert sie, unterwegs mit einem Trupp des "Bundes Deutscher Mädel", einen Befehl. Laut und zornig erwidert sie der Truppführerin, das sei doch alles Blödsinn. Ihr geschieht nichts, aber die Angst sitzt ihr später in den Knochen. Das schlimmste Erlebnis, die Vergewaltigung durch russische Soldaten, steht ihr da aber noch bevor. Zwischen der behüteten Kindheit und den Wirren des Krieges könnte kein größerer Gegensatz bestehen. Der Bruder, mit halb zerstörten Lungenflügeln von der Front heimgekehrt, stirbt bereits 1953. Die Firma des Vaters erholt sich nur langsam. Über die Verluste und das Verlorensein wird nicht viel geredet. Auch die Erzählerin fügt sich: Sie lernt ihren Mann kennen, und die inzwischen promovierte Germanistin verzichtet zugunsten der wachsenden Familie auf ihre Karriere. Dieser zweite Teil der Biographie wird im Vergleich zur Kindheit im Schnelldurchlauf erzählt. Und der dritte nur angedeutet: Die Kinder sind erwachsen, die nicht mehr junge Frau bricht aus den noch strengen Konventionen aus, trennt sich von ihrem Mann, kauft ein Haus auf dem Land. Davon berichtet Ilse Helbich später, in einem anderen Buch. Zwischen Anpassung und Aufbegehren spielt sich dieses Frauenleben ab. Vielleicht musste Ilse Helbich 80 werden, um davon auf so bedächtige, eindrückliche Weise erzählen zu können.