"Herrliche Zeiten - Die Himmelsstürmer" von Peter Prange

Stand: 25.10.2024, 07:00 Uhr

Liebesbande in der Gründerzeit: Peter Prange spiegelt europäische Geschichte in amourösen Begegnungen zwischen Berlin, London und Paris am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Rezension von Dirk Fuhrig.

Peter Prange: Herrliche Zeiten - Die Himmelsstürmer
Fischer Scherz, 2024.
672 Seiten, 25 Euro.

"Herrliche Zeiten - Die Himmelsstürmer" von Peter Prange Lesestoff – neue Bücher 25.10.2024 05:25 Min. Verfügbar bis 25.10.2025 WDR Online Von Dirk Fuhrig

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Der preußische König hatte sich soeben im Spiegelsaal von Versailles zum deutschen Kaiser krönen lassen, Otto von Bismarck trat als Reichskanzler an. Und in der österreichischen K.-und-k.-Monarchie florierte der Bäder-Tourismus. Vornehmlich in Karlsbad traf sich die Oberschicht aus ganz Europa.

"Mit ihren siebzehn Jahren gedachte Vicky von den Kuranwendungen keinen Gebrauch zu machen, dafür aber umso mehr von den hier herrschenden Freiheiten. Anders als in London, wo ihre Mutter ein strenges Regiment führte (…), konnten laut Baedeker junge, unverheiratete Frauen wie sie sich in Karlsbad ohne Aufsicht in der Öffentlichkeit zeigen. Die Kurpromenade stand in dem Ruf, eine Art Freilichtbühne zu sein, wo Fremde beiderlei Geschlechts einander so zwanglos begegneten wie sonst kaum irgendwo auf dem ohnehin sehr freizügigen Kontinent."

Peter Prange, Meister der Herzschmerz-Saga, lässt rund um die heilenden böhmischen Quellen eine folgenreiche Dreiecksbeziehung ihren Anfang nehmen: Die kecke Vicky wird von einem Bauingenieur aus Berlin ebenso leidenschaftlich umworben wie von einem glutäugigen französischen Nachwuchs-Koch: Auguste Escoffier – der später zum maßgeblichen Erfinder der französischen Haute-Cuisine werden sollte. Indem der seine Rezepte nachvollziehbar aufschrieb, in seinem "Guide Culinaire", dem "Kochkunstführer": 

"Er wusste, wenn er nicht wie die meisten Küchenchefs mit vierzig oder spätestens fünfzig Jahren als menschliches Wrack enden wollte, aufgezehrt von einer täglich sechzehn oder noch mehr Stunden währenden Arbeit in unerträglicher Hitze, musste er seine Bei- und Hilfsköche befähigen, genauso gut zu kochen wie er selbst (…). Zu diesem Zweck verfasste er unzählige Anleitungen, wie seine Rezepturen auszuführen waren, mit einer solchen Präzision, dass jedes Mitglied seiner Brigade auch die anspruchsvollsten Gerichte eigenständig nachkochen konnte. Seit einigen Wochen befasste er sich mit der Herstellung von Soßen, der Königsdisziplin der Kochkunst."

Béchamel oder Béarnaise – so gut über Wasserbad gerührt, delikat abgeschmeckt und cremig wie die Soßen des berühmten Auguste Escoffier, der Luxushotels in London und Paris (und später Monte-Carlo) zu Gourmet-Tempeln hochkochte, so schaumig ist der literarische Plot zusammengeklöppelt, den Peter Prange in diesem Roman serviert: Der Hauptgang ist die trinationale Love-Story zwischen Vicky, Auguste und dem deutschen Ingenieur Paul Biermann – anders als Escoffier eine fiktive Gestalt. Drumherum drapiert Prange zahllose Details zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts. Der nationale Aufbruch nach dem Sieg über Frankreich 1871 hatte in Deutschland und gerade in dessen neuer Hauptstadt einen Bauboom entfacht:

"Nach Jahrzehnten der Tatenlosigkeit hatte die Stadtverwaltung nun endlich den leitenden Ingenieur (…) beauftragt, ein alle Teile Berlins erfassendes Kanalisationssystem zu entwerfen. Die französischen Reparationszahlungen, die nach dem Sieg Deutschlands über den Erbfeind auch in die Berliner Stadtkasse geflossen waren, hatten den Ratsbeschluss begünstigt, den Kraftakt in Angriff zu nehmen."

Paul Biermann rettet die insolvent gegangene Baufirma seines Vaters und bringt sie wieder ganz nach oben. Allerdings nur mit Hilfe einer reichen strippenziehenden Berlinerin, die sich den strammen Ingenieur als Liebhaber angelt – während ihr Gatte sich mit jungen Burschen vergnügt. Glaubt man dem Schriftsteller Prange, war also auch schon vor der Jahrhundertwende – und nicht erst in den wilden 20ern – einiges (zügel-)los in der Reichshauptstadt.

Durch seine glänzenden Beziehungen in höchste Kreise, bis hin zu Bismarck, gelingt es Biermann sogar, Aufträge für den Bau des als Übertrumpfung der Champs-Élysées gedachten Kurfürstendamms zu ergattern. Das klingt ziemlich boulevardesk und nach romanesker Soap-Opera? Ist es im Prinzip auch. Zumal wenn man den aufgeblasenen, altertümelnden Schreibstil Pranges in Rechnung stellt.

Allerdings tritt mit Vicky eine enorm fortschrittliche, selbstbewusste Frauengestalt auf, die die gesellschaftlichen Konventionen sprengt. Und die Verknüpfung der zuckersüßen Love-Story mit den zahlreichen historischen Referenzen – vom Aufstieg Berlins zu Glanz und Gloria über die Weltläufigkeit der Metropole London bis zu kolonialen Konflikten in Afrika – macht die Lektüre dieses Romans zu einer unterhaltsamen, lehrreichen und populären Geschichtsstunde.