Ismail Kadare: Der Anruf. Untersuchungen
Aus dem Albanischen übersetzt von Joachim Röhm.
S. Fischer Verlag, 2025.
176 Seiten, 24 Euro.
Ismail Kadares großes Thema war die Auseinandersetzung mit dem Totalitären – wie lässt sich leben inmitten einer alles Leben kontrollierenden Macht? Er wusste, wovon er schrieb. Die kommunistische Herrschaft Enver Hoxhas in Albanien, die fast 40 Jahre währte, hatte paranoide Züge; die Abschottung des Landes ließe sich am ehesten mit der Nordkoreas vergleichen.
Kadares letzter zu Lebzeiten erschienener Roman "Der Anruf" liegt nun auf Deutsch vor, bewährt hervorragend übersetzt von Joachim Röhm. Vielleicht ist "Roman" die falsche Gattungsbezeichnung: Es sind darin Erinnerungen, Träume, Reflexionen zu finden. Der Untertitel "Untersuchungen" mag es besser treffen. Gegenstand der Untersuchung ist die Frage, wie sich der Künstler angesichts einer unberechenbaren und zerstörerischen Macht verhalten, wie er überleben kann.
Es sind die 70er Jahre, er befindet sich im Büro des Schriftstellerverbandes in Tirana, als ihm der Telefonhörer gereicht und mitgeteilt wird, Enver Hoxha wolle mit ihm sprechen.
"Ich sagte 'danke', mehr brachte ich nicht heraus. Hoxha gratulierte mir zu einem Poem, das eben in der Zeitung abgedruckt worden war. Ich bedankte mich erneut. Es habe ihm sehr gefallen."
Ob dieses Telefonat wirklich stattgefunden hat oder nur eine literarische Fiktion ist? Jedenfalls hat es in Kadares Text die Funktion, ein anderes, berühmteres Telefongespräch in Erinnerung zu rufen. Und zu dem vorzudringen, was ihn interessiert: Ossip Mandelstam schrieb 1934 ein Spottgedicht auf Josef Stalin.
Nur ein paar wenige Menschen kannten dieses scharfe, sarkastische Poem, aber doch zu viele. Der allmächtige Staatsapparat erfuhr davon, Mandelstam wurde verhaftet, ihm drohte Schlimmstes. Und dann geschah etwas Merkwürdiges: Stalin höchstpersönlich rief Boris Pasternak an, den anderen großen Dichter neben Mandelstam. Drei Minuten nur dauerte dieses Gespräch, das wie ein Katz-Maus-Spiel ablief. In den Akten des KGB ist es folgendermaßen überliefert:
"B. Pasternak erhielt einen Telefonanruf von Poskrjobyschew, der sagte: 'Genosse Stalin wird jetzt mit Ihnen sprechen.' (…) Tatsächlich nahm Stalin den Hörer ab und sagte: 'Der Dichter Mandelstam ist kürzlich verhaftet worden. Was können Sie über ihn sagen, Genosse Pasternak?' Boris war offensichtlich sehr verwirrt und antwortete: 'Ich weiß sehr wenig über ihn! Er war ein Akmeist, und ich gehöre einer anderen literarischen Richtung an! Also kann ich nichts über Mandelstam sagen.' 'Und ich kann sagen, dass Sie ein sehr schlechter Genosse sind, Genosse Pasternak!', sagte Stalin und legte den Hörer auf."
Um diesen Wortwechsel rankt sich ein Mythos. Mindestens dreizehn verschiedene Versionen sind davon in Umlauf. Pasternak selbst hat davon berichtet, er hat anderen davon erzählt, die darüber geschrieben haben – von Anna Achmatowa über Nadeshda Mandelstam bis zur Ehefrau Pasternaks; es gibt Aussagen von Menschen, die dabei waren, von anderen, die nur vom Hörensagen davon Rechenschaft ablegen konnten. Kadare spielt all die Varianten durch, er untersucht die kleinsten Abweichungen.
Dabei rückt er kaum näher an die wortgetreue Wahrheit. Aber doch an die verheerend-verstörende Wirkung, die Folgen in der Psyche: Hat Pasternak feige gehandelt? Hat er durch seine unzulängliche Antwort den Gefährten ans Messer geliefert? Was überhaupt wollte Stalin: Herausfinden, ob auch er – Pasternak – die Verse Mandelstams kannte? Machte Stalin sich lustig, als er ihn einen schlechten Genossen nennt?
"Kompliziert wird die ganze Sache, als sie in eine andere Dimension übergeht, die man als ‚Zone des Todes‘ bezeichnen könnte. Erst jetzt wird das Geschehen unverständlich, hüllt sich in den Nebel, in dem es jahrzehntelang verbleiben wird."
Die "Zone des Todes" ist in Diktaturen – früheren und heutigen – jener Raum, in dem man sich als Intellektueller und Künstler bewegt. Ihre Grenzen sind willkürlich gezogen. Sie sind unfassbar und gefährlich, weil man sie nicht erkennt. Kadare wusste darum. Auch sein Buch kann die Grenzen nicht benennen, noch nicht einmal eine klare Form dafür finden – das macht es so eindrücklich, macht es zu einem Roman und auch wieder zu keinem.
Mandelstam kam im Jahr 1934 übrigens frei, wurde in die Verbannung geschickt. Und vier Jahre später erneut verhaftet – nachdem er eine Ode an Stalin geschrieben hatte, mit der er sich womöglich dessen Gunst erkaufen wollte, die aber auch als Angriff auf den Diktator gelesen werden konnte. Ende 1938 starb er, halb verhungert und herzkrank, in einem Übergangslager.