Buchcover: "Wie die Welt weiterging" von Monika Helfer

"Wie die Welt weiterging" von Monika Helfer

Stand: 27.12.2024, 07:00 Uhr

Kurze Texte mit langer Wirkzeit: Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer hat 365 Geschichten zusammengestellt, die für jeden Tag des Jahres Inspiration und Trost schenken. Eine Rezension von Andrea Gerk.

Monika Helfer: Wie die Welt weiterging. Geschichten für jeden Tag.
Hanser Verlag, 2024.
768 Seiten, 32 Euro.

Jeder Tag verdient eine Geschichte, sagt die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer. Und so hat sie aus über tausend kurzen Texten, die sie teilweise für die Tageszeitung in ihrer Heimat, die "Vorarlberger Nachrichten" geschrieben hat, 365 zusammengestellt – genau einer für jeden Tag des Jahres. Damit stellt sie sich in die Tradition der klassischen Kalendergeschichte, wie sie Johann Peter Hebel, Gottfried Keller oder auch Bertolt Brecht geschrieben haben.

Auch Helfers Texte sind meistens nur knapp anderthalb Seiten lang, sie wirken aber umso länger nach. Etwa wenn sie in "Erbärmliche Rache" von einer uralten Frau erzählt, die ihr Gewissen erleichtern will und gesteht, dass ihr vermögender Mann sie zwar verwöhnt, aber auch gezwungen habe, vor dem Bett auf dem Fußboden zu schlafen wie ein Hund:

"'Ich wehrte mich am Anfang, und er sagte, würde ich ihm nicht gehorchen, müsste er mich fortschicken. Das hätte für mich bedeutet, in mein karges Leben zurück. Ich übte den Widerstand, in dem ich ihm in sein Essen spuckte.' Ihr Mann starb vor dreißig Jahren, sie erbte sein Vermögen und schlief in seinen Federn. Aber ihr Gewissen plagte sie, und je älter sie wurde, umso elender fühlte sie sich. Keine Achtung vor sich zu haben, ist erbärmlich."

So offen und ein wenig rätselhaft wie hier enden viele Geschichten. Ein kleines Mädchen schwärmt für einen Bauarbeiter bzw. sein goldenes Kettchen mit einer Madonna, das er um den Hals trägt, und als er es sie anprobieren lässt, geht das Mädchen in einem unbeobachteten Moment damit fort. Eine Witwe entsorgt den Anzug ihres verstorbenen Mannes in einem Kleidercontainer, sieht ihn später an einem jungen Mann wieder und lädt ihn zu sich zum Essen ein. Und eine ukrainische Frau verschwindet einfach mit einem ihrer Kinder aus dem Zugabteil, lässt ihren Mann und das andere Kind sang- und klanglos zurück:

"Meine Fantasie galoppierte, und ich stellte mir vor, dass sich die Frau in Salzburg mit ihrem Liebhaber verabredet hatte, deshalb war sie mit dem Kind verschwunden. Sie wollte weg von ihrem Mann. Aber hatte sie denn keine Sorge um ihr größeres Kind?"

Alltagsbeobachtungen sind hier oft Auslöser für kurze, verdichtete Episoden, die sehr viel mehr andeuten als sie explizit aussprechen. Manche Geschichten wirken wie Märchen oder Fabeln und sehr oft geht es um Gefühle, die nicht so einfach zu verarbeiten oder zu verstehen sind – wie Trauer, Schmerz und Scham, aber auch um Hoffnung und Trost:

"Eine Bank steht vor dem Bild. Darauf sitzt zur Mittagszeit eine sehr alte Frau. Sie winkt mich zu sich, und ich sage ihr, dass ich einmal so werden will wie sie, so abgeklärt, gütig auch zu den Bösen. Einmal überraschte sie ein Einbrecher. Die alte Frau sagte zu ihm: 'Ich brühe Kaffee für Sie auf, dann gehen Sie wieder, armer Mann. Ich habe nur wenige Euros in meiner Geldbörse. Wollen Sie die haben?' Der Mann schämte sich und kletterte wieder durch das Küchenfenster hinaus ins hohe Gras. Am nächsten Tag kam er vorbei, diesmal stand er vor der Haustür und brachte der alten Frau ein Stück Marillenkuchen."

Wie in den Romanen sind auch hier manche Geschichten autobiographisch grundiert und so taucht mal Helfers Ehemann, der Schriftsteller Michael Köhler auf, mal geht es um Paula, die bei einem Bergunfall verunglückte Tochter der beiden. Davon zu erzählen, ist natürlich kein Heilmittel, aber es zeigt, dass die Welt immer weitergeht, wie es im Titel heißt und dass genau darin auch etwas Tröstliches liegt. Monika Helfers Geschichten schenken auch und gerade, wenn sie von den dunklen Farben des Lebens erzählen, so etwas wie Zuversicht und sie sind damit genau das, was wir jeden Tag brauchen.