Buchcover: "Videotime" von Roman Ehrlich

"Videotime" von Roman Ehrlich

Stand: 01.10.2024, 07:00 Uhr

Roman Ehrlich erzählt in "Videotime" von einer Jugend in den Neunzigern – und verwebt dabei auf brillante Weise Wirklichkeit und Fantasie. Eine Rezension von Andreas Wirthensohn.

Roman Ehrlich: Videotime
S. Fischer Verlage, 2024.
368 Seiten, 26 Euro.

"Videotime" von Roman Ehrlich

Lesestoff – neue Bücher 01.10.2024 05:55 Min. Verfügbar bis 01.10.2025 WDR Online Von Andreas Wirthensohn


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Wie schnell die Zeit vergeht, wie rasant unsere Welt sich weiterentwickelt, merken wir oft erst im Rückblick, wenn Dinge oder Orte verschwunden sind, die einst zum festen Bestand des eigenen Lebens gehörten.

So ergeht es auch dem Ich-Erzähler in Roman Ehrlichs neuem Roman. Er kehrt nach langer Zeit zurück in die Kleinstadt irgendwo in Bayern, in der er in den achtziger und neunziger Jahren aufgewachsen ist. Die Mutter hat sich längst vom Vater getrennt und ist über alle Berge, der ältere Bruder ist ebenfalls nicht mehr vor Ort und fühlt sich ohnehin nicht mehr zuständig für irgendwelche Familienangelegenheiten. Der jüngere Sohn will den Vater besuchen, der offenbar eher prekär in einer Mietskaserne wohnt, doch als er im Treppenhaus steht, zieht es ihn nicht in die väterliche Wohnung, sondern in den Keller. Denn dort lagert das, was die Kindheit des Erzählers nachhaltiger geprägt hat als alles andere:

"An den beiden Seiten des Kellerabteils (…) hat mein Vater zwei tiefe Bücherregale aufgestellt, in denen die vielen hundert VHS-Kassetten seiner Piratenvideothek in doppelten Reihen noch immer sorgfältig nach fortlaufender Nummerierung einsortiert stehen. Die Kassetten sind nicht mehr Teil seines Haushalts und aktiv in Benutzung, wie sie es über die Jahre unseres Zusammenlebens gewesen sind."

Der Vater hatte sich die Filme aus der inzwischen nicht mehr existierenden titelgebenden Videothek namens Videotime ausgeliehen und dank ausgeklügelter Technik im heimische Hifi-Schrank Raubkopien davon angefertigt. Die Sammlung wurde in einem dicken Ordner feinsäuberlich indexiert und ergänzt durch Artikel zu den jeweiligen Filmen, die der Vater aus der Fernsehzeitung ausgeschnitten hatte. Nicht minder gesetzwidrig war, dass der Vater seine beiden Söhne gerne auch Filme anschauen ließ, die für ihr Alter noch keineswegs freigegeben waren.

Neben der noch eher unverfänglichen Verfilmung der "Unendlichen Geschichte" bekam der Erzähler demnach schon in jungen Jahren so einiges zu sehen: "Total Recall" mit Arnold Schwarzenegger, Schocker wie "Der Exorzist", "The Devil in Miss Jones", einen Arthouse-Porno der härteren Sorte, oder einen wuchtigen Actionfilm wie "Universal Soldier". Während der Bruder bald die Lust an diesen verbotenen "Mutproben", wie sie es nennen, verliert und sich lieber wieder seiner Tenniskarriere widmet, taucht der Erzähler immer tiefer ein in die Filmwelten, die da zu Hause herumstehen.

Das geht so weit, dass seine Weltwahrnehmung vielfach schon filmisch vorgeprägt ist. Eines Tages etwa unternimmt die Familie einen Ausflug in die Nähe der Kleinstadt. In einer Tonfördergrube wurde eine bedeutende archäologische Entdeckung gemacht, nämlich Knochenreste eines Menschenaffenweibchens, und die will man sich im improvisierten Besucherzentrum ansehen. Der Erzähler indes hat zuvor schon den Science-Fiction-Horrorfilm "The Thing" von John Carpenter gesehen. Darin legt ein Expeditionsteam in der Antarktis ein seit tausend Jahren eingeschlossenes Raumschiff frei, in dem eine virusartige außerirdische Existenz überdauert hat. Sie kann sich in andere Lebewesen einnisten und diese in Monster verwandeln.

"Ich war auf der Grundlage dessen, was mit den amerikanischen Forschern in 'The Thing' vor meinen Augen passiert war, auf unserer Fahrt zum Sensationsfund in schweren Zweifeln darüber, ob es klug sein konnte, das, was so lange unter eiszeitlichen Erdschichten begraben gelegen hatte, hervorzuholen und herumzureichen an der freien Luft. (…) Und ich erinnerte mich an die Szene im Basislager des bereits stark dezimierten Expeditionsteams, das sich verschanzt hatte und in dem die Angst umging, einer von ihnen könnte sich bereits mit der außerirdischen Existenz infiziert haben. Die entscheidende Frage (…) war: Wie können wir wissen, wer im Innern noch ganz Mensch ist und nicht schon in überhandnehmendem Anteil 'The Thing?'"

Roman Ehrlichs Roman besteht aus drei Ebenen, die sich von Anfang an, aber zunehmend unentwirrbar überlagern: der gegenwärtigen Erkundung verschiedenster, oft nicht mehr existierender Kindheitsorte, die unzählige Erinnerungen an vergangene Erlebnisse auslöst, welche ihrerseits von den filmischen, sprich: fiktionalen Erfahrungen des damaligen Ichs überformt sind.

Aus diesem kunstvollen Ineinander erwächst ein Familienroman, der von originellen, feinsinnigen Beobachtungen ebenso geprägt ist wie von einer unterschwelligen, wabernden Düsternis, die den Familienverhältnissen geschuldet ist, aber auch all den filmischen Dämonen, Gewaltszenen und Horrorgeschichten. Eine originellere Coming-of-Age-Geschichte gab es lange nicht zu lesen. Und ganz nebenbei ist dieses Buch auch eine Hommage an eine Institution, die im Streaming-Zeitalter wie ein Relikt aus ganz fernen Tagen erscheint: die Videothek.