José Maria Eça de Queirós: Die Maias. Episoden aus dem romantischen Leben
Aus dem Portugiesischen übersetzt von Marianne Gareis.
Hanser, 2024.
944 Seiten, 44 Euro.
"Die Maias" ist Familienroman und präzise Sittenchronik in einem. Das Buch liefert ein hinreißend erzähltes, wenngleich wenig schmeichelhaftes Porträt einer dekadenten Gesellschaft und eines Landes, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinter dem übrigen Europa zurückgeblieben ist. Es sind in erster Linie zwei junge Männer, die sich mit spöttischen Reden über die höhere portugiesische Gesellschaft, der sie selbst angehören und von der das Buch ausschließlich erzählt, lustig machen: Carlos de Maia und sein Freund João da Ega. Vor allem letzterer liebt es, der Oberschicht, die angestrengt den neuesten Pariser oder Londoner Chick zu imitieren versucht, den Spiegel vorzuhalten.
"Hier wird doch alles importiert. Gesetze, Ideen, Philosophien, Theorien, Themen, Ästhetik, Wissenschaften, Stilrichtungen, Industriezweige, Moden, Manieren, Witze, alles wird in Kisten mit dem Dampfer angeliefert."
José Maria Eça de Queirós wollte seinen Roman, der die Zeitspanne von 1820 bis 1887 umfasst, dezidiert als gesellschaftskritisches Buch verstanden wissen. Aber dass "Die Maias" zu einem Meisterwerk wurde, verdankt sich anderen Qualitäten: den spritzigen Dialogen, ausgeprägten Charakteren und dem Flair von Lissabon. Die Stadt mit ihren Abendgesellschaften, Clubs und Vergnügungen ist die Bühne für betrunkene Dichter, verschlagene Aufsteiger, intrigante Politiker, ehrgeizige Diplomaten, aristokratische Dandys und unglücklich verheiratete Frauen.
Einer ragt heraus aus dieser Gesellschaft der Langeweile und des Müßiggangs: Afonso de Maia. Der Großvater von Carlos ist ein Freigeist und ein Mann mit zeitlosen moralischen Maßstäben. Seinen über alles geliebten Enkel hat er dazu erzogen, dem Land nützlich zu sein. Carlos ist begabt und geistreich – und er möchte etwas bewirken. Er eröffnet eine Arztpraxis, aber es kommen kaum Patienten. Gemeinsam mit Ega will er eine Zeitschrift zur Erziehung der portugiesischen Gesellschaft herausgeben. Aber es bleibt bei Plänen. Die beiden so ambitionierten Männer werden angesteckt vom Ennui Lissabons und finden immer neue Entschuldigungen für ihre eigene Untätigkeit und Trägheit.
"Das Einzige, was man in Portugal tun kann, ist Gemüse anbauen, solange es keine Revolution gibt, die etwas von diesen ursprünglichen, starken und lebendigen Elementen wieder an die Oberfläche bringt, die hier noch immer in der Tiefe schlummern. Und falls wir feststellen, dass da nichts schlummert, sollten wir unseren Status als Land, für das wir nicht das Zeug haben, aufgeben und wieder eine fruchtbare, stumpfsinnige, spanische Provinz werden und noch mehr Gemüse anbauen!"
"Episoden aus dem romantischen Leben" – so heißt der Untertitel des Romans nicht von ungefähr. Auf kaum etwas verwenden die jungen, ledigen Männer Lissabons so viel Energie, wie darauf, schöne, verheiratete Frauen zu ihren Geliebten zu machen. Und von nichts träumen diese Frauen sehnsüchtiger als von der großen Liebe und dem Ausbruch aus der Langeweile ihres Ehealltags.
Eça de Queirós nimmt eine zur Romantik verklärte Zügellosigkeit aufs Korn und mit ihr die Schwäche von Menschen, die sich von Leidenschaften und Gefühlen statt von ihrem Verstand leiten lassen. Aber von diesen Leidenschaften und Gefühlen erzählt er zugleich betörend schön und direkt. Vor allem wenn er der vertrackten Liebesgeschichte zwischen Carlos und der geheimnisvollen Maria Eduarda nachgeht. Dieser Roman macht an der Schlafzimmertür nicht halt, sondern folgt dem Liebespaar ganz unkeusch bis in die Betten, die auch schon einmal "zum Erzittern" gebracht werden.
"Nie hatte sie ihn so sehr begehrt, nie so sehr geliebt! Es war, als verlangten ihre sehnsuchtsvollen Küsse nach mehr als nur seinem Körper, als wollten sie ihn durchdringen und seinen Willen und seine Seele verschlingen – und ihm kam Maria in dem leuchtenden Brokat, mit dem offenen Haar und der göttlichen Nacktheit die ganze Nacht über tatsächlich wie die Göttin vor, die er immer in ihr gesehen hatte."
Die jetzt in der wunderschönen Klassiker-Reihe des Hanser-Verlags erschienene Übersetzung von Marianne Gareis ist – erstaunlich genug – überhaupt erst die zweite Übertragung ins Deutsche. In ihrem Nachwort erklärt die Übersetzerin, dass es ihr darum gegangen sei, den Individualstil des Autors, seine Ironie und seinen Humor herauszuarbeiten und darum, die Ausgangssprache in ein "zeitgemäßes, frisches Deutsch" zu bringen. Das ist ihr glänzend gelungen. Dieser Roman aus dem 19. Jahrhundert wirkt alles andere als gestrig und verstaubt, sondern in vielerlei Hinsicht ganz aktuell.