Dass dieses Open Air anders ist als andere Großveranstaltungen bemerkt jeder, der den Künstlerbereich des Festivals betritt. Keine unfreundlichen Securities bellen einen an, weil man seinen Arbeits-Pass falsch rum trägt, die Zahl der rumlaufenden Wichtigtuer ist erträglich und die Musiker wirken entspannter als auf anderen Festivals. Anstatt streng bewacht in ihren Garderoben zu hocken, sieht man sie im angrenzenden See baden, faul im Schatten ihres Tourbusses dösen, mit anderen Bands Fußball spielen oder im familiären Catering-Bereich selbstgemachten Kuchen essen.
Nicolai Dunger wirkt im Interview noch ein wenig geschafft von der langen Anreise. Es ist heiß draußen und jeden - egal ob Festivalbesucher, Veranstalter oder Musiker - zieht es an den angrenzenden See. Der angeblich so rebellischen Adam Green sieht man am frühen Nachmittag verträumt am Ufer entlang schlendern und I Am Kloot spielen sogar mit dem Gedanken nackt ins Wasser zu springen. Erst gegen Abend, als dEUS ihren ersten Gig seit langem spielen, kühlt es sich ein wenig ab. Tom Barman & Co. legen einen klasse Auftritt hin, der wieder einmal beweist, wie routiniert das Gespann aus Belgien agiert.
Beinahe wäre der Auftritt von Gisli am frühen Samstagnachmittag ins Wasser gefallen. Der Isländer schafft es in letzter Sekunde ohne sein Equipment, das beim Flug nach Deutschland verloren gegangen ist, auf die Bühne. Trotz der widrigen Umstände verliert der Isländer nicht seinen Humor und legt einen guten Auftritt hin. Etwas später im Interview erzählt er, dass er eine ganz besondere Beziehung zu Deutschland hat, weil ihm sein Vater - ein Fischermann - in seiner Jugend stets Beatles-Platten von seinen Reisen nach Deutschland mitbrachte.
Eigentlich standen für Embrace gar keine Festivalauftritte auf dem Programm. Erst die Absage von The Zutons ermöglichte dem britischen Gespann einen der begehrten Plätze im Haldern-Billing zu ergattern. Für die Jungs ist es der erste Festival-Auftritt seit drei Jahren und der erste Gig mit brandneuen Songs. Obwohl Embrace nur einen einzigen Tag Zeit für Proben hatten, gelingt das Comeback. Einer der außergewöhnlichsten Künstler des Festivals ist Jose Gonzalez, der seine Deutschland-Premiere feiert und im schummrigen Abendlicht ein 30-minütiges Solo-Akustik-Gitarren-Set spielt. Obwohl der in Argentinien geborene Schwede zwischen der Bühnen-Crew, die bereits für den Auftritt von Paul Weller umbaut, ein wenig verloren wirkt, ist das Publikum aufmerksam und von der Show angetan. Nebenbei kann der schüchterne Skandinavier in seinen Ansagen noch mit beachtlichen Deutsch-Kenntnissen glänzen - eine Überraschung, denn im Interview, das wenige Stunden zuvor stattfand, redete Herr Gonzalez ausschließlich Englisch mit uns.
Nach der Ruhe folgt der Sturm und der heißt Paul Weller. Der Brite bietet von der ersten bis zur letzten Minute einen mitreißenden Auftritt. Kein Wunder, denn Weller - der stets mit seiner halben Sippe auf Tournee geht - hat sich den Haldern-Gig als einzigen deutschen Festival-Auftritt der Saison ausgesucht und zeigt seine Liebe zu dem staubigen Reitplatz mit einer herausragenden Show. Vom Charisma eines Paul Weller kann sich so mancher junger Künstler noch eine Scheibe abschneiden. Der Engländer hat sein Publikum bis zur letzten Sekunde fest im Griff und genießt den Applaus am Ende des Auftritts. Als er von der Bühne kommt, geht alles Schlag auf Schlag. Da noch eine weite Fahrt ansteht, bleibt keine Zeit für Small-Talks, Autogramme und ein Feierabend-Bier. Paul Weller zwinkert noch einmal der Rockpalast-Crew zu, bevor er in den wartenden Tourbus steigt.
Doch der Abend ist noch lange nicht vorbei. The Divine Comedy spielen einen ihrer wenigen Auftritte mit Orchester. Schon Nachmittags hatte Bandkopf Neil Hannon im Interview verraten, dass dieses Mal nur wenig Zeit für Proben mit dem Ensemble blieb und spektakuläre Bühnenshows dieser Größenordnung immer ein Wagnis sind. Schon beim Eröffnungsstück zeigt sich allerdings, dass alle Sorgen unbegründet sind. Die mit Lichterketten dekorierte Bühne strahlt feierlich in der Dunkelheit, die Songauswahl ist harmonisch und Meister Hannon hat sowohl seine Band als auch das Orchester fest im Griff. Einen spektakuläreren Höhepunkt kann man sich nicht wünschen.
Die Nacht endet für das Rockpalast-Team laut und schrill im fantasievoll gestalteten Spiegelzelt, wo The Dresden Dolls ihre Deutschland-Premiere feiern. Das US-Duo präsentiert sein Programm, das an eine Mischung aus Rock, Jazz, Punk und Brecht-Theater erinnert, ekstatisch, leidenschaftlich und provokativ. Die beiden Protagonisten Amanda Palmer und Brian Viglione holen bei schweißtreibenden Temperaturen alles aus ihrem Klavier und dem Schlagzeug. Der Andrang ist so groß, dass ein Teil der Festivalbesucher keinen Platz mehr im Zelt findet und sich die abstrusen Coverversionen von Black Sabbaths "War Pigs" und Jaques Brels "Amsterdam" draußen anhören muss. Das Festival ist fast zu Ende, aber für die meisten Besucher scheint schon fest zu stehen, dass die Reise auch im nächsten Jahr wieder an den Niederrhein führen wird, zu einem kleinen Festival, das ein Garant für große Musik ist.