Das erste, das einem in Groningen auffällt, sind die vielen Fahrräder. Typisch Holland. Alles erscheint lockerer und unkomplizierter; und das gilt nicht nur für die unzähligen Coffeeshops. Aber kann das der Grund dafür sein, dass es ausgerechnet in den Niederlanden ein Festival für den Nachwuchs der europäischen Musik gibt? Sicher hilft es, ein offenes und freundliches Umfeld zu haben wie in der Universitätsstadt Groningen. Von den rund 175.000 Einwohnern sind über die Hälfte unter 35 Jahre alt. Und so hat sich eine sehr lebendige und interessante Kulturlandschaft in dieser Metropole des holländischen Nordens entwickelt.
Ideal für die Veranstalter von EuroSonic. In Groningen gibt es unzählige Clubs und Kneipen mit kleinen Bühnen. Und die Stadthalle bietet mit ausreichend Platz für 2.000 Menschen die passende Location für große Konzerte. EuroSonic startete letztes Jahr. In Groningen präsentierten sich einige europäische Bands, die in ihren Ländern schon Erfolge erzielt hatten, aber über ihre Landesgrenzen hinaus noch ganz unbekannt waren. Das ganze war ein so großer Erfolg, dass dieses Jahr schon 150 Bands auftreten - und das in gerade Mal drei Tagen. Ganz Groningen rockt! Alle Veranstaltungen sind ausverkauft, obwohl von den 13.500 Besuchern kaum einer eine der Bands kennt.
Doch das scheint völlig egal zu sein, denn der Groninger ist neugierig und der Spaß an guter Musik ist wichtiger als große Namen. Für die richtige Qualität der Musik sorgen die 24 europäischen Radiostationen, die an dem Programm mit beteiligt sind und live vom EuroSonic in ganz Europa berichten. Unter anderem Eins Live.
Das Festival-Programm beginnt mit einer Energie geladenen Dance-Formation aus Ungarn: Anima Sound System. Obwohl ihre Texte auf Ungarisch mit Sicherheit dem holländischen Publikum unverständlich bleiben, geht die Musik spätestens nach dem zweiten Stück in die Beine - und das zeigen die Zuschauer ganz deutlich. Ein voller Erfolg und der Beweis, dass gute Dancemusic nicht aus England oder Amerika kommen muss. In der Musikhochschule geht es wenig später ganz anders weiter. Under Byen, eine Formation aus Dänemark, die schon einigen in Deutschland bekannt sein könnte. Sie traten beim Haldern-Pop 2003 auf und hinterließen dort wie auch in Groningen eine düstere, fesselnde Atmosphäre; Portishead meets Björk.
Interessante Klangmontagen - Under Byen treten mit zwei Schlagzeugen, einem Cello, einer Geige, einem Klavier, einem Bass auf - gepaart mit einer zerbrechlichen Frauenstimme. Wie verschieden Europa ist, zeigt das nächste Konzert im großen Theater von Groningen: The Frames aus Irland füllen in ihrer Heimat bereits Fußballstadien und das zu Recht. Vom ersten Stück an rockt die Halle. Mit ihrer schroffen und eckigen Art auf der Bühne, ihren Anspielungen auf Bekanntes und den Einflüssen aus der irischen Kultur werden The Frames mit Sicherheit in ganz Europa Fans finden. Nicht mehr als eine Gitarre, einen Bass und ein Schlagzeug braucht Baby Woodrose, um die gute alte Zeit des Rock'n'Rolls wieder aufleben zu lassen. Die drei Brüder aus Dänemark spielen nicht nur wie in den 60ern, sie leben sie auch. Frontmann Lorenzo Woodrose hat eine Hippiekommune gegründet und lebt nach den Ideen der Woodstockgeneration. In dem Studentenheim Mutua Fides startet Simple Kid aus Irland den zweiten Abend. Auf den ersten Blick wirkt der Auftritt provisorisch. Die Bühne steht voll mit Equipment der Bands, die nach ihm spielen werden. Doch das stört Simple Kid wenig. Er braucht für seinen Laptop, den Drumcomputer und die Wandergitarre nicht viel Platz und seine Freunde, die ihn mit Gitarre und Keyboards begleiten, finden auch noch ein freies Eckchen.
Und wenn Simple Kid loslegt, vergisst man eh die spärliche Bühne. Eine so ideenreiche Mischung aus poppigen Melodien mit Industrial-Samples hat man schon lange nicht mehr gehört. Simple Kid wird mit Sicherheit bald in der Kategorie von Badly Drawn Boy und Beck gehandelt werden. Genau so interessant für den europäischen Raum ist The Soundtrack Of Our Lives aus Schweden. Seit sieben Jahren begeistern sie das schwedische Publikum. Ihre neo-psychedelische Rockzeremonie, die sie hier dem holländischen Publikum darbieten, ist beeindruckend. Dass das an den Bookern der Festivals nicht spurlos vorüber geht, zeigt sich schnell: Zehn europäische Festivals haben The Soundtrack Of Our Lives für 2004 gebucht.
Neben den ganzen großen Auftritten in den Clubs und Hallen gibt es zwischendurch kleinere Gigs in Plattenläden. So spielen z.B. Mustasch aus Schweden im Plattenladen Plato vor rund 40 Leuten. Aber keine Spielstätte ist zu klein, um richtig abzurocken. Und bald können wir Mustasch auch im Großen erleben. Mustasch werden auf der Deutschlandtournee von Motörhead die Vorgruppe sein. Dass es noch kleiner geht, zeigen die 'Live In The Livingroom'-Konzerte. Ein Groninger lädt 20 zahlende Gäste in sein Wohnzimmer ein, verpflegt sie mit Bier und Wein und lässt drei junge Liedermacher auftreten. Für 10 Euro kann man so einen netten Abend verbringen. Und dass musikalisch einiges geboten wird, zeigt der Auftritt von Marike Jager. Sie ist Gewinnerin des großen Preises der Niederlande 2004 Kategorie: Singer und Songwriter.
Am dritten und letzten Abend findet das so genannte Noorderslag Festival statt. Hier treten nur niederländische Bands auf. Eine Gelegenheit zu sehen, was das Gastgeberland zu bieten hat. Und wir sehen, dass Holländer nicht nur gute Veranstalter sind, sondern auch selber interessante Musikacts zu bieten haben. Ein Beispiel: Peter Pan Speedrock. Wie der Name schon ahnen lässt, rocken die Eindhovener verdammt schnell und hart und präsentieren sich als Einheizband. Der Höhepunkt des holländischen Abends ist der Auftritt der Gothic-Metal Band Within Temptation. Nicht erst seit dem 'Herr der Ringe'-Hype haben Within Temptation Erfolg mit ihrer Mischung aus Metal und Storytelling, die mit der tollen Stimme von Sharon den Adel vorgetragen wird. 1996 begann die Erfolgsgeschichte der sympathischen Band. Nach nur zwei Monaten hatten sie einen Plattenvertrag und bis heute sind sie Topseller in den Beneluxstaaten. Dass auch die Gothic-Szene in Deutschland nicht so klein sein kann, zeigen die Verkaufszahlen: Über 100.000 Mal wurde das aktuelle Album in Deutschland verkauft - eine goldene Schallplatte. EuroSonic ist mit Sicherheit für alle ein Erfolg gewesen und von der vermeintlichen Krise der Plattenfirmen haben wir hier nicht viel gespürt.
Es ging um Livemusik und den Verkauf von Livemusik - und da muss sich Europa wirklich nicht hinter den USA verstecken. Es bedarf mit Sicherheit noch einiger Verbesserungen der Kommunikation unter den Ländern, aber EuroSonic hat die ersten Schritte getan - und wir freuen uns schon auf die Vorschläge für 2005.