In fremden Gewässern: Piraten organisieren sich im Landtag
Stand: 23.05.2012, 06:00 Uhr
7,8 Prozent bei der NRW-Wahl - das macht 20 Abgeordnete und im Fall der Piratenpartei keinerlei parlamentarische Erfahrung. Landtag geentert, und nun? Geschäftsordnungen pauken, Räume finden, anders bleiben - ein Besuch bei den Landtagslehrlingen.
Von Jenna Günnewig
Wenn die Sonne untergegangen ist, gehört der Landtag den Piraten. Dann werden aus Grumpy, Nick Haflinger und rwolupo die Abgeordneten Marc Olejak, Joachim Paul und Daniel Düngel. Virtuelle Welt trifft auf "Real Life" - die Piratenfraktion trifft sich im Landtag und hier auf Hierarchien, Regeln und komplizierte Strukturen. Fast jeden zweiten Abend treffen sich die 20 zukünftigen Abgeordneten der Piratenpartei im ehemaligen Besprechungsraum der Linkspartei mit Rheinblick zur Fraktionssitzung. Wo sollen die Drucker hin? Was macht ein parlamentarischer Geschäftsführer eigentlich? Und wer wird Landtagsvizepräsident? Es geht um simple Organisationsfragen, um parlamentarische Standards und auch darum, den Weg zum Cola-Automaten in der Kantine zu finden.
"Auf alles eine Antwort? Da geht doch unser Charme verloren"
Nico Kern freut sich auf den "Realitätscheck"
"Was uns fehlt, ist die praktische Erfahrung", gibt Nico Kern zu. Die Piraten seien Lehrlinge und würden die Oppositions- als Schulbank verstehen, erklärt der 39-jährige Jurist. Noch komme ihm der Landtag ein wenig wie ein Kaninchenbau vor, er verlaufe sich inzwischen aber nicht mehr. Meist um kurz nach 18 Uhr starten die Piraten ihre Rechner und die Fraktionssitzung. Die großen, grauen Retro-Tastentelefone des Landtags, die neben ihren blinkenden Laptops auf den runden Tischen stehen, wirken wie Fremdkörper aus einer anderen Zeit. Die Sitzung wird in die virtuelle Welt gestreamt. Noch ist die Webcam provisorisch auf einem der Drehstühle befestigt und die Bildqualität grisselig. Irgendwann soll aber ein Stativ mit drei bis vier Kameras fest in der Raummitte installiert werden.
Alle Abgeordneten sind online, twittern und schreiben live am Sitzungsprotokoll mit. Zunächst geht es um die konstituierende Sitzung des Landtags, um Arbeitszeiten und darum, ob ein professioneller Pressesprecher eingestellt werden soll oder nicht. NRW-Piratenchef Michele Marsching argumentiert dagegen: "Da geht doch unser Charme verloren. Ein professioneller Pressesprecher hat auf alles eine Antwort."
"Wir sind nicht gewählt, um Computer zu administrieren"
Noch besitzen die Piraten eine Do-it-yourself-Mentalität. Die Pressearbeit übernimmt weiterhin ein Abgeordneter, zwei andere richten zurzeit Mailadressen und Netzwerke ein. Das kostet viel Zeit und muss laut Marsching rasch geändert werden: "Wir sind nicht gewählt, um Computer zu administrieren oder am Netzwerk rumzuschrauben. Wir müssen dazu übergehen die politische Arbeit zu machen." Also hin zu Politik und Inhalten? Jetzt sei man halt noch beim Orga-Kram, "spätestens aber bei unserer konstituierenden Sitzung fangen wir an thematisch zu arbeiten", verspricht Marsching. Schon jetzt haben sich die Piraten professionalisiert, es wird zügig gearbeitet, sachlich argumentiert, Diskussionen über die Einrichtung eines Bällchenbades in der Mitte des Besprechungsraumes finden in der Pause statt.
Lukas Lamla (l) und Marc Olejak (r) kümmern sich um die Technik
Keine Inhalte, keine Ahnung, es sei zu früh, die Piraten überhaupt ins Parlament zu lassen - angesprochen auf diese oft geäußerte Kritik der etablierten politischen Konkurrenz schüttelt Nico Kern nur den Kopf: "Wir müssen uns doch in der Praxis bewähren. Den Grünen ging es so, den Linken ging es so." Es sei ein Politikversuch, den die Piraten unternehmen würden. "Wir wollen das hier ausprobieren." Und dieser Versuch wird spannende Fragen beantworten: Wie sehr müssen die Piraten zur klassischen Partei werden, um im Parlament bestehen zu können? Wie soll Schwarmintelligenz im Plenum funktionieren? Wie verträgt sich Basisdemokratie mit Vorstandswahlen?
Piratige Denkweise kollidiert mit hierarchischen Strukturen
Pizza, Cola, Laptop - Grundversorgung für lange Piratensitzungen
Später am Abend erinnern die Piraten immer mehr an eine klassische Partei. Schluss mit buntem Bällchenbad, mit Witzen über Facebook oder Schwärmereien um das Computerspiel Diablo lll, es geht an die Postenverteilung. Wer wird Geschäftsführer, wer Landtagsvizepräsident? Und sollen nicht alle Abgeordneten einfach stellvertretende Fraktionsvorsitzende werden? Es entspinnt sich eine hitzige Diskussion. Namen werden vorgeschlagen, kurze Bewerbungsreden gehalten. "Wir sind Piraten. Wir müssen nicht so verfahren, wie die Etablierten", versucht ein Pirat die Diskussion abzukürzen, indem er die Systemfrage stellt. Nein, Posten müssen sein, findet die Mehrheit. Die nominiert am Ende auch Daniel Düngel zum Landtagsvizepräsidenten. Die Wahlen um den Fraktionsvorsitz und den parlamentarischen Geschäftsführer werden wahrscheinlich schwieriger und deswegen auf die kommende Woche verschoben.
"Die piratige Denkweise kollidiert mit den hierarischen Strukturen und Zuständigkeiten des Landtags", stellt Kern nachher fest. "Wir sind aber nun mal angetreten, um das politische System upzugraden - mal sehen, wie weit wir kommen." Mit 20 Abgeordneten stellen die Piraten in Nordrhein-Westfalen derzeit die größte Fraktion ihrer Partei in Deutschland. Ihre Arbeit hier wird auch wichtig sein für die Bundestagswahl 2013. "Wir machen uns keine Illusion, dass das ponyhofmäßig abläuft. Das ist ein Realitätscheck, klar!" so Kern.
Noch wird im Nichtschwimmerbecken geplanscht
Marsching "mit dem Strom schwimmen, um ihn woanders hinzulenken"
Wie ein Mantra betonen die Piraten, dass sie ihren Prinzipien treu, dass sie glaubwürdig bleiben wollen. "Wir sind mit den 20 Leuten eine Minderheit und können hier jetzt nicht so tun als hätten wir eine Mehrheit. Natürlich müssen wir uns anpassen", macht Marsching klar. "Aber das wussten wir ja vorher. Dass wir mit dem Strom schwimmen müssen, um ihn dann woanders hinzulenken." Wichtig sei, dass die Piraten ihre Ziele nicht verlieren, dass sie transparenter und offener arbeiten, dass Ideen von Parteimitgliedern und Bürgern reingeholt werden würden, "dass wir halt anders sind."
Das käme im Landtag gut an, glaubt Marsching. Unter den Mitarbeitern im Landtag herrsche ein 'Endlich-mal-normale-Leute-Klima'. "Leute, die mal nicht in Anzug rumlaufen, die sind wie du und ich, die sich nicht vordrängeln an der Kasse. Einfach nur normale Leute, die hier mal was anderes machen wollen. Wir wollen Evolution nicht Revolution." Auch am Ende der fünften Sitzung, am Ende eines langen Arbeitstages findet Michele Marsching es noch immer "ein wenig unrealistisch" mit den Piraten im Landtag von NRW zu sitzen. "Man muss glaube ich mal eine Plenarsitzung mitmachen, um zu realisieren, was man hier so tut. Im Moment schwimmen wir noch im selbst gebauten Nichtschwimmerbecken, da müssen wir aber irgendwann raus."