Über Christian Lindner ist schon nahezu alles geschrieben worden. Er zieht Journalisten an wie die Fliegen. Liberaler Politstar, der bessere Guido, letzter FDP-Hoffnungsträger titeln die Zeitungen. Lindner fasziniert mehr, als dass er polarisiert. Er ist der liberale Nenner, auf den sich selbst ausgesprochene FDP-Hasser einigen können.
Seit knapp einem Monat und kurz, nachdem sich der Landtag in NRW auflöste, ist er zurück. Er hat das Amt des Spitzenkandidaten für die Neuwahl in NRW übernommen, soll nun retten, was von der FDP noch zu retten ist. In der maroden Partei herrscht "Wer-wenn-nicht-er-Stimmung": Die Basis, die Spitze, alle wollten ihn. Dabei hatte Lindner erst im Dezember einen Rückzieher gemacht. Ziemlich überraschend schmiss er seinen Posten als Generalsekretär der Bundespartei hin. Normalerweise bedeutet so etwas das parteipolitische Karriereende. Doch Lindner bekam nur vier Monate später von Daniel Bahr den Landesvorsitz und von Gerhard Papke den möglichen Fraktionsvorsitz der FDP in NRW geschenkt.
Zu smart für den Wochenmarkt
Nun muss Lindner bis zum 13. Mai fünf Prozent zusammenkratzen: "Panisch rumtitschen bringt da nix." Er fährt lieber: zum Mülheimer Wochenmarkt, auf die Art Cologne, zum Straßenwahlkampf nach Köln. Die FDP verkaufen, Small Talk halten, Menschen ansprechen und überzeugen. Dabei sind die Fußgängerzonen und Wochenmärkte nicht Lindners Welt. Zu gut sitzen Anzug und Manieren. Der 33-Jährige menschelt nicht wie Hannelore Kraft, er fachsimpelt lieber über Industriepolitik als über das Wetter.
Beim FDP-Wahlkampfauftakt in der Kölner Fußgängerzone zum Beispiel. Er könnte den Zuhörern viel versprechen, bessere Bildung etwa oder einfach ein bisschen auf die rot-grüne Minderheitsregierung draufkloppen. Stattdessen versucht Lindner zu rechtfertigen, warum sich seine Partei geweigert hat, für die Schleckermitarbeiter eine Transfergesellschaft zu finanzieren: "Es ist ein von den Bürgern nicht gewolltes Geschäftsmodell. Soziale Politik ist es, echte, sichere Arbeitsplätze zu schaffen." Die FDP setze sich für Arbeitnehmer ein. Passanten bleiben stehen, hören zu und applaudieren - sie würden Lindner wohl auch Staubsauger abkaufen.
Lindner war immer der Jüngste
Politik hat Lindner in NRW gelernt, fast zehn Jahre hat er hier im Landtag gesessen. Mit 16 trat er in die FDP ein, mit 18 wurde er in den Landesvorstand, mit 21 Jahren in den Landtag gewählt. "Bambi" nannte ihn sein politischer Ziehvater Jürgen Möllemann, denn Lindner war immer der Jüngste: jüngster Landtagsabgeordneter, mit 25 Jahren jüngster NRW-Generalsekretär, mit 30 Jahren jüngster Generalsekretär der FDP-Bundespartei.
Mit 33 Jahren ist er nun Spitzenkandidat - und wieder der Jüngste. Alt-Liberale wie Gerhart Baum, Klaus Kinkel und Hans-Dietrich Genscher machen für ihn Werbung. Selbst der abtrünnige Sozialdemokrat Wolfgang Clement hilft beim Wahlkampf. Wenn auch nur mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass er den Kandidaten Lindner und nicht die FDP an sich unterstütze. Das scheint das derzeitige Gefühl im Wahlkampf-überhitzten Land zu sein - egal ob auf dem Wochenmarkt oder beim Arbeitgeberverband: "Sie sind der einzig vernünftige Typ in der FDP", bekommt Lindner wieder und wieder gesagt.
"Der Staat darf nicht schneller wachsen als die Wirtschaft"
Lindner ist das, was gemeinhin als smart bezeichnet wird. Etwas kühl, immer souverän, ein Perfektionist. Teilweise wirken seine Gesten wie einstudiert. Wird er fotografiert, winkelt er den Arm auf Hüfthöhe an. Hört er zu, geht die rechte Hand ans Kinn - seine Denkerpose. Er merkt sich die Namen seiner Gesprächspartner, geht auf jeden geduldig ein. Von Lindners erster Bundestagsrede soll Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) völlig begeistert gewesen sein. Debattieren kann Lindner. Egal, wie kurz und spontan sein Redebeitrag ist, immer ist er gegliedert. Vorne kommt ein kurzes Summary, dann eine Aufzählung, am Ende ein Appell. Meist in Richtung: "Der Staat darf nicht schneller wachsen als die Wirtschaft". Immer wieder verordnet Lindner "Bescheidenheit" - wahlweise soll die Politik, der Staat, seine Partei bescheidener werden. "Wenn Bescheidenheit und Selbstbewusstsein zusammenkommen, ist das Souveränität", erklärt er auch in seiner umjubelten Bundesparteitag-Rede am Wochenende (21./22.04.2012) in Karlsruhe.
Wenn die FDP in die Leitplanke rasselt, kriegt Lindner die Kurve
Wegen Christian Lindner wollen statt zwei nun immerhin vier Prozent in NRW die FDP wählen - das würde knapp nicht für den Landtag reichen. Gefragt nach den Konsequenzen, falls seine Partei es am 13. Mai nicht schafft, antwortet Hobby-Rennfahrer Lindner mit einer Verhaltensregel aus dem Motorsport: "Wenn man in eine Kurve reinfährt, schaut man nicht auf die Leitplanke, sondern auf den Kurvenausgang."
Auch wenn die NRW-FDP in die Leitplanke rasselt, Lindner wird elegant die Kurve kriegen. Er hat sich durch die Kandidatur eine Pole-Position für Berlin gesichert. Schließlich muss irgendjemand die FDP auch bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr retten.