Wer heute mit einem Boot über den Möhnesee schippert oder sich auf einer Luftmatratze über das Wasser treiben lässt, der ahnt nicht, dass tief unter ihm früher Menschen lebten. Für den Bau der Sperrmauer vor 100 Jahren mussten 800 Menschen ihre Heimat verlassen. Etwa 160 Häuser, darunter Schulen, Mühlen und viele Höfe, wurden geflutet, damit das Ruhrgebiet mit genügend Wasser versorgt werden kann. "Für die Menschen damals war das ziemlich hart", sagt Karl-Heinz Does vom Heimatverein Möhnesee: "Aber klar, heute möchte niemand mehr den Möhnesee missen."
"Der Rummel hat zugenommen"
Der Möhnesee ist im Volksmund auch als "Westfälisches Meer" oder als "Badewanne des Ruhrpotts" bekannt. Wenn es draußen wärmer wird, zieht es tausende Menschen ins Naherholungsgebiet am Rande des Arnsberger Waldes. "Zum 100. Geburtstag der Möhnetalsperre wünscht sich mancher Einheimische und mancher Gast angesichts von Autoschlangen, Motorradlärm und Rummel die Beschaulichkeit der guten alten Zeit zurück", schreibt der Möhneseer Franz Kuschel im Jubiläumsbuch des Heimatvereins. "Der Rummel hat zugenommen", findet auch Norbert von Tolkacz, der Vorsitzende des Heimatvereins. "Aber der richtige Möhneseer bleibt an solchen Tagen ohnehin zu Hause."
Ein Spaziergang über die Sperrmauer geht immer
Spaziergang über die Sperrmauer
Auf der Sperrmauer ist immer was los – auch bei miesem Wetter. Die befreundeten Ehepaare Gülle und Scheele aus Bochum spazieren bei leichtem Nieselregen über das mächtige Mauerwerk. "Den Möhnesee kenne ich seit Kindertagen", sagt Christel Scheele. Ihr Mann Josef findet: "Wir könnte hier eine Woche verbringen und würden immer noch was Neues entdecken. Hier gibt es tolle Wanderwege und von Bochum aus sind wir ruckzuck da."
Die Freunde aus dem Ruhrgebiet schauen auf den See. Durch die Sperrmauer konnten die beiden Flüsse Möhne und Heve zu einem Becken mit 130 Millionen Kubikmeter Wasser gestaut werden. Vor 100 Jahren entstand so nicht nur ein Tourismusmagnet für die Region, sondern auch ein gewaltiges Wasserreservoir. Der See füge sich zwar harmonisch in die Landschaft ein, doch der Möhnesee bleibe ein künstliches, von Menschenhand geschaffenes Gebilde, sagt der Experte Karl-Heinz Does.
Sperrmauer im Zweiten Weltkrieg zerbombt
Eine riesige Flutwelle schob sich nach der Zerbombung durch die Sperrmauer.
Im Zweiten Weltkrieg am 17. Mai 1943 wurde die Sperrmauer von einer Rollbombe der britischen Luftwaffe getroffen. Eine riesige Flutwelle schob sich über die Nachbargemeinde Ense und die Stadt Neheim in die Ruhr. Über 1.285 Menschen starben in dieser Nacht; darunter auch 700 Zwangsarbeiterinnen, die in der Nachbarstadt Neheim-Hüsten arbeiteten und in Baracken am Möhnesee übernachten mussten.
Das Flusstal war nur dünn besiedelt
Jubiläumsbuch "Die Möhnetalsperre im Wandel der Zeit"
Vor 100 Jahren griff der Bau der Sperrmauer in die Lebenswirklichkeit der Menschen ein. Der Ort Kettlersteich musste den Fluten komplett weichen. Das Projekt "Möhnesee" ist von den Bewohnern aber nie infrage gestellt worden. "Es war Obrigkeitszeit", erinnert Does. Es sei allen klar, dass die Städte im Ruhrgebiet einen unheimlichen Wasserbedarf hatten. "Aber die Dorfbevölkerung wurde von ihrer Scholle weggerissen", sagt Does.
Tatsächlich sind nur zwei Familien aus dem Ort Kettlersteich im Möhnetal geblieben. Für die Menschen wurde keine Alternativ-Fläche zur Besiedelung ausgewiesen. "Jeder musste sich sein Land selber suchen – und damit waren die einfachen Menschen schnell überfordert." Das Flusstal aber, so Does, sei ohnehin nur dünn besiedelt gewesen, da hier ständig mit Überschwemmungen gerechnet werden musste. Die meisten Flusstal-Bewohner arbeiteten in der Land- oder Forstwirtschaft.
Der Möhnesee hat seit seiner Entstehung Wohlstand in die Region und in die Gemeinde gebracht. Hotels, Restaurants, Landschulheime, Strandbäder oder Segelschulen locken viele Touristen an. Eine Stunde vom Möhnesee entfernt wohnen über sechs Millionen Menschen, die an schönen Sommertagen ihr Feierabend-Bier gerne am Ufer des Sees trinken. Oder über die Sperrmauer spazieren.