Nachtwanderung auf acht Halden

Haldensaga im Revier

Stand: 24.07.2011, 08:00 Uhr

Wenn im Ruhrgebiet tausende Wanderer nachts auf riesige Halden steigen, dann ist Haldensaga im Revier. 4.000 Wagemutige waren gestern Nacht bei der ersten Wanderung dabei. Am Ende wurden die Gipfelstürmer ganz schön nass.

Von Katja Goebel

Sie kommen tatsächlich. Haben die Wanderschuhe geschnürt, den Rucksack mit Proviant vollgepackt, die Taschenlampen geladen. So stehen sie um 18 Uhr im Stadtgarten in Bottrop und lachen trotzig in den wolkigen Himmel, der Ungutes verspricht. Sie haben sich viel vorgenommen für die Nacht. Wer bis zum Ende durchhält, wird mehr als 12 Stunden auf den Beinen sein. Es ist Haldensaga im Revier und allein in Bottrop wollen an diesem Tag rund 400 Menschen gemeinsam bis ans Ende der Nacht gehen.

Acht Halden von Neukirchen-Vluyn bis Bergkamen stehen im Mittelpunkt der ersten Haldensaga, bei der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang gewandert wird. Jeweils zwei Halden gilt es in einer Nacht zu bezwingen. Wanderer haben die Wahl zwischen 29 unterschiedlichen Touren. "Ein nächtliches Erlebnis zwischen Poesie und Schotter", hat der Veranstalter versprochen und rund 4.000 Haldentickets verkauft.

Auf den Gipfel wegen Pina

Gleich mehrere Gruppen starten an diesem Abend vom Bottroper Stadtgarten Richtung Halde Haniel, eine der höchsten Halden im Revier. Pfadfinder führen die Gruppen. Abmarsch ist punkt 18 Uhr. Schon eine Stunde später ist die erste Gruppe am Fuß der Halde angelangt. Viele, die hier mitlaufen, kennen das Terrain. So wie Jürgen Sust aus Velbert, der im Kulturhauptstadtjahr alle Halden im Ruhrgebiet erkletterte. Oder Paul Schmidt, der sogar seinen Urlaub verschoben hat, nur um Haldensaga zu spielen.

Am Fuße der Bergbauhalde Haniel beginnt ein Kreuzweg, der sich auf den 126 Meter hohen Gipfel windet. Es geht durch Bäume und Buschwerk den Pilgerpfad hinauf. Oben dann ein Hochplateau, grau und steinig wie eine Mondlandschaft. Der Wind bläst ruppig, doch der Weitblick entschädigt sofort. "Das ist ja gar nicht auszuhalten, wie schön das ist", begeistert sich eine Wanderin aus Wuppertal. Sie will ganz nach oben, dorthin, wo die 100 Eisenbahnschwellen eines baskischen Bildhauers den Gipfel krönen. "Haben Sie den Film über Pina Bausch gesehen? Da gibt es eine Tanzszene, die genau dort spielt. Schon deshalb musste ich heute hier her."

Picknick zwischen Totempfählen

Jetzt machen sie die erste Rast zwischen der Installation aus bunten Totems und lassen die Augen wandern. 360 Grad und so viel zu sehen. Die Schalke-Arena in Gelsenkirchen, der Gasometer in Oberhausen, das Stahlwerk in Duisburg, das Heizkraftwerk von Walsum. Und wie grün es da unten ist, bemerkt einer, der auf einem Stück Isomatte kauert und den Blick schweifen lässt. "Wahnsinn", sagt ein anderer und muss gleich nach dem Weitwinkel für die Kamera suchen.

Zwischen gelber, blauer und mintfarbener Gipfelkunst wird jetzt die Tupperware ausgepackt. Frikadellen machen die Runde, Käsehappen und Salami. Unten auf dem grauen Plateau verteilen die Helfer derweil Äpfel und Pflaster. Es gibt erste Blasen und Umkehrer zu beklagen. "Mir ist zu kalt", sagt eine Dame und macht sich verfrüht auf den Heimweg.

Gute-Nacht-Geschichten im Park

Es dämmert schon, da machen sich die Gruppen wieder an den Abstieg. Es geht zurück zum Stadtgarten. Hier wartet ein Nachtrastplatz auf die Wanderer - und Jürgen Raudczus. Der ist einer von sechs Nachtdozenten in Bottrop. Engagiert, um nachts von Mythen, Menschen und Maloche zu erzählen. "Geschichte und Geschichten sind mein Hobby", sagt der Essener, der schon als ehrenamtlicher Volunteer im Kulturhauptstadtjahr im Einsatz war. Aufklärungsarbeit nennt Raudczus das. "Ich will den Leuten erzählen, wie schön es hier ist." 

Während der Nachdozent noch einmal in seine Aufzeichnungen guckt, kehrt Alfred Koenighausen gerade von der seiner Wanderung auf die Halde Beckstraße zurück. Dort hat er unter dem Tetraeder gestanden, dieser begehbaren Stahlkonstruktion, die weit sichtbar in die Nacht leuchtet. Er hat verzückt hinunter geblickt auf die Lichter der Stadt und die Natur. "Ich bin froh in dieser Landschaft zu leben, die endlich eine ist", sagt der 68-Jährige, der das Ruhrgebiet noch aus seinen grauen Zeiten kennt.

Halden, Helden und ganz viel Regen

Ab zwei Uhr in der Nacht ist es dann mit der Behaglichkeit vorbei. Es schüttet und viele Haldenstürmer treten den Heimweg an. Nur die ganz Unermüdlichen wandern weiter. So wie Juliane Gill und Ulla Wagner. Die beiden wollen ihre ganz persönliche Haldensaga unbedingt zu Ende bringen und machen sich um vier Uhr tatsächlich noch auf den Weg zum Tetraeder. Am Ende ist es ein überschaubares Grüppchen von rund 50 Wanderern, das im Morgengrauen in Regenponchos den Gipfel erreicht. Müde blicken sie. Den Aussichtsturm auf der Halde hat man vorsichtshalber gesperrt, doch Juliane und Ulla ist selbst da das Lachen nicht vergangen. "Dann müssen wir eben noch einmal wieder kommen."