Der Berliner Finanzsenator a. D. und ehemalige Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (SPD) steht am Donnerstag Abend (07.10.2010) am Redepult bei den Dortmunder Unternehmerverbänden und liefert die von ihm gewohnten provokativen Sätze. Selbstbewusst, überzeugt und eloquent wiederholt er seine Thesen über Zuwanderung, die Entwicklung der Geburtsraten und einer deutschen Bevölkerung, die unablässig schrumpft. Einige Zuhörer nicken, andere schütteln den Kopf. Ab und zu schmunzelt jemand, aber Widerspruch gibt es zu keinem Zeitpunkt, dafür viel Applaus. Nach der Veranstaltung werden einige Fans ihr Exemplar von "Deutschland schafft sich ab" nach vorn tragen und signieren lassen.
Sarrazin in Freundesland
Eigentlich ist Thilo Sarrazin in Dortmund, um über die Steuerquote zu sprechen. Interessanter als die Steuer scheint jedoch die Person Sarrazin selbst zu sein. Bei keinem anderen Gastvortrag war der Saal voller: In engen Reihen sitzen rund 250 Zuhörer; die Unternehmerwelt ist männlich, zwischen 50 und 60 Jahren alt und trägt schwarze, blau-weiß gestreifte oder grau karierte Sakkos. "Das ist Rekord", sagt René Scheer, Vorstand der Dortmunder Unternehmensverbände. Euphorisch hatte Scheer den prominenten Redner vorgestellt: "Was könnte ein Thilo Sarrazin in Dortmund alles bewegen?", fragt er in die Runde. Für Sarrazin ist die Unternehmervilla in der Dortmunder Prinz-Friedrich-Karl-Straße Freundesland.
Proteste vor der Unternehmervilla
Hin und wieder dringen einige unverständliche Wortfetzen durchs Fenster hinein. Draußen veranstalten rund 30 Anhänger der Partei Die Linke eine Kundgebung und skandieren im Sprechchor Sätze, die drinnen nicht mehr zu verstehen sind. Sie haben eine Art Strohpuppe mit Sarrazins Foto gebastelt und wollen zeigen, dass der Querulant in Dortmund nicht willkommen ist. "Das ist Rassismus, was der Mann verbreitet, anders kann man es nicht nennen", sagt Helmut Manz, 43, stellvertretender Bürgermeister des Dortmunder Stadtteils Innenstadt-Nord, in dem viele Migranten leben. Das Gespräch mit Sarrazin, der nur wenige Meter von ihm entfernt im Gebäude der Unternehmerverbände Hände schüttelt, sucht er nicht. "Der hat sich als Diskussionspartner erledigt", sagt Manz.
Einer gegen den Rest der Welt
In der Villa teilt Sarrazin später Seitenhiebe in alle Richtungen aus: zum geplanten Stuttgarter Bahnhof ("Ein finanzpolitischer Unsinn, nur damit ein Zug nicht wenden muss"); gegen Schulschwänzer ("Wenn ein Schüler nicht zum Unterricht erscheint, wird jemand nach Hause geschickt, der nachschaut, was bei der Familie los ist") und Geisteswissenschaftler ("Die richtigen Germanisten studieren Jura, weil sie später mal Geld haben wollen, um Bücher zu kaufen").
Spalten statt versöhnen
Wo der Bundespräsident Christian Wulff (CDU) Islam und Deutschland versöhnen will, haut Sarrazin alles in Stücke. Er fordert IQ-Tests an Schulen: "Die müssen natürlich anonym ablaufen. Der durchschnittliche IQ an einer Schule in Berlin-Neukölln wird vermutlich bei 90 liegen und in Zehlendorf zwischen 105 und 108." Wer das Phänomen Sarrazin erleben wollte, wurde nicht enttäuscht. Immer wieder gibt es spontanen Applaus. Und so fährt Sarrazin mit seiner Abrechnung fort: keine fremden Sprachen in deutschen Behörden; kein Familiennachzug für Migranten; rigorose Abschiebung von jedem, der kein Aufenthaltsrecht im Schengen-Raum hat. Wulff warnte in seiner Rede vom 3. Oktober dagegen vor "einer falschen Konfrontation": Neben Christen- und Judentum gehöre inzwischen auch der Islam zu Deutschland.
Fehleinschätzungen gibt es nicht
Eine einzige kritische Nachfrage aus dem Publikum muss sich Sarrazin gefallen lassen: "Welche Fehleinschätzung in Ihrem Buch würden Sie als erstes korrigieren?" Sarrazin erwidert süffisant: "Hmm, ich habe geschrieben, dass drei Prozent der türkischen Migrantinnen einen deutschen Mann haben. Mittlerweile habe ich gelernt, dass es wohl 5,8 Prozent sind." Der Applaus kann sich an dieser Stelle allerdings nicht durchsetzen.
"Teilweise sehr befremdlich"
Die Reaktionen auf das bunte Thesenfeuerwerk fallen verhalten bis positiv aus. "Eigentlich sind es eher die deutschen Schüler, die die Schule schwänzen", sagt Birgit Mann nachdenklich, zweite Rektorin einer Realschule in Dortmund. "Die Schüler mit Migrationshintergrund geben sich allgemein sehr viel Mühe." Wolf-Dietrich Köster, Unternehmer im Dortmunder Hafen, ist sich dagegen sicher: "Was Sarrazin sagt, entspricht der Realität. Ich fand seine Formulierungen weder drastisch noch schockierend." Einer der wenigen jungen Männer, der Dortmunder BWL-Doktorand Helge Döring, findet die Thesen "teilweise sehr befremdlich".
Doch jeder scheint in Sarrazins Potpourri ein Detail, zu finden, dem er zustimmt. Die meisten denken wie Werner Schickentanz, bis 2007 Leiter der Dortmunder Arbeitsagentur: "Natürlich sind seine Thesen zu Recht umstritten. Trotzdem hat Sarrazin - was den demografischen Wandel betrifft - viele wichtige und richtige Erkenntnisse aufgeschrieben, über die man in Deutschland diskutieren muss." Unternehmer und Zuhörer gehen nach Hause, sie haben einen unterhaltsamen Abend erlebt - wenn auch auf Kosten von Migranten, Schulschwänzern und anderen Randgruppen.