Prozess 65 Jahre nach drei Morden
Aachen: Ehemaliger SS-Mann gesteht
Stand: 08.12.2009, 15:38 Uhr
Der frühere SS-Mann Heinrich Boere hat vor dem Aachener Landgericht gestanden, 1944 in den Niederlanden drei Zivilisten getötet zu haben. Er habe nicht mit dem Bewusstsein gehandelt, ein Verbrechen zu begehen, so der 88-Jährige.
In einer von seinem Verteidiger am Dienstag (08.12.09) vorgelesenen Erklärung hieß es wörtlich: "Ich habe 1944 zu keinem Zeitpunkt mit dem Bewusstsein oder mit dem Gefühl gehandelt, ein Verbrechen zu begehen. Heute nach 65 Jahren sehe ich das natürlich aus anderem Blickwinkel." In der Erklärung schilderte der Angeklagte, wie er mit einem Komplizen drei vermeintliche Widerstandskämpfer erschoss. Damals habe er die "Repressalmaßnahmen" als notwendig und rechtens erachtet. "Als einfacher Soldat habe ich gelernt, Befehle auszuführen."
Gericht lehnt Anträge auf Prozess-Einstellung ab
Boere, der 1944 in den Niederlanden drei Zivilisten ermordet haben soll, war 1949 bereits in Amsterdam in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Später wurde die Strafe in lebenslange Haft umgewandelt. Diese hatte der SS-Mann jedoch nie verbüßt. Er war vor dem Prozess in die Bundesrepublik geflüchtet. Das holländische Urteil nahm die Verteidigung Broeres gleich zweimal zum Anlass, die Einstellung des Verfahrens zu beantragen. Sie berief sich jeweils darauf, dass niemand wegen derselben Straftat zweimal verurteilt werden darf. Das Gericht lehnte beide Anträge ab.
Zum Zeitpunkt des ersten Antrags am Prozessbeginn gab es laut einem Aachener Gerichtssprecher noch einen sogenannten Vollstreckungsvorbehalt. Da Boere zwar verurteilt war, seine Strafe aber nie angetreten habe, musste er in Aachen vor Gericht. Seither hatte sich indes nach Ansicht der Verteidigung die Rechtslage geändert, da die seit 1. Dezember 2009 geltende Europäischen Grundrechte-Charta keinen expliziten Vollstreckungsvorbehalt mehr vorsieht. Ihr zweiter Antrag auf Einstellung scheiterte nun am Dienstag, weil die Kammer keine neue Rechtslage feststellte, so der Sprecher gegenüber WDR.de.
Mitglied des SS-Sonderkommandos "Feldmeijer"
Unstrittig ist die Vergangenheit des Angeklagten als SS-Mann. Der Sohn einer Deutschen und eines Holländers war 1940 im Alter von 18 Jahren freiwillig der Waffen-SS in Deutschland beigetreten. Später wurde er in die besetzten Niederlande zur dortigen "Germanischen SS" abkommandiert. Ab 1942 gehörte er dem SS-Sonderkommando "Feldmeijer" - benannt nach dem niederländischen faschistischen Politiker und Waffen-SS-Angehörigen Johannes Hendrik Feldmeijer - an. Dieses Sonderkommando war mit der Durchführung der so genannten "Silbertanne"-Morde betraut. Unter diesem Decknamen wurden nach Anschlägen niederländischer Widerstandskämpfer Vergeltungsmorde an Zivilisten verübt, wenn diesen nachgesagt werden konnte, dass sie mit Widerstandskämpfern sympathisierten. 54 Menschen verloren dabei ihr Leben. Der Angeklagte soll an dreien dieser Morde beteiligt gewesen sein, nämlich am 14. Juli 1944 in Breda und am 3. September 1944 in Voorschoten und Wassenaar.
Bürgerliche Existenz als Bergmann
Historisches Bild: Waffen-SS vor Panzer
Nach Kriegsende konnte der SS-Mann zwar festgenommen werden, doch 1947 gelang ihm aus dem Polizeigewahrsam die Flucht. In den 50er Jahren baute er sich unbehelligt in Deutschland eine bürgerliche Existenz als Bergmann auf. Heute lebt er in einem Altenheim bei Aachen.
Lange Zeit gab es ein juristisches Tauziehen zwischen deutschen und niederländischen Behörden. Die Niederlande forderten Anfang der 80er Jahre die Auslieferung des Mannes, doch Deutschland weigerte sich mit Hinweis darauf, dass er als staatenlos galt und es nicht auszuschließen sei, dass er durch seinen Eintritt in die Waffen-SS die deutsche Staatsangehörigkeit erlangt haben könnte. Peter Romijn, Professor für Geschichte und Forschungsleiter des niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation in Amsterdam, erklärte gegenüber WDR.de: "1943 gab es einen Führererlass, dass ausländische Freiwillige durch Zugehörigkeit zur SS Deutsche werden durften. Viele später nach Deutschland Geflüchtete haben sich darauf berufen und konnten deshalb nicht ausgeliefert werden." Staatenlos war der Angeklagte deshalb, weil ein niederländisches Gesetz nach dem Krieg vorschrieb, dass jeder Kollaborateur, wie etwa die rund 65.000 Mitglieder der niederländischen Nazi-Partei NSB (Nationaal-Socialistische Beweging), seine holländische Staatsangehörigkeit verlor.
"Verbrechen müssen gesühnt werden"
Historisches Bild: Waffen-SS beim Schwur
Wie viele holländische Nazis damals nach Deutschland flüchteten, ist nicht bekannt. Historiker wie Professor Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Uni Münster, gehen aber von tausenden holländischen Nazis aus, die nach Kriegsende unerkannt und unbehelligt in Deutschland weiterlebten. Wie war das möglich? "Damals fragte keiner nach der Vergangenheit. Es hat ja schon immer viele Niederländer in Deutschland gegeben. Deshalb gab es auch kein Misstrauen", sagte Wielenga auf Nachfrage von WDR.de. Und Gerhard Hirschfeld, Direktor der Bibliothek für Zeitgeschichte Stuttgart, erklärte: "In den 50er und 60er Jahren wurde oft nur zugunsten solcher Angeklagter Recht gesprochen." Gerade deshalb sei ein Prozess heute umso wichtiger: "Die großen Verantwortlichen sind längst tot, heute geht es um Täter aus dem zweiten und dritten Glied. Aber Prozesse sind wichtig, damit die Menschen heute informiert werden, was damals wirklich geschehen ist. Solche Verbrechen dürfen nicht verjähren, sie müssen gesühnt werden", forderte Hirschfeld gegenüber WDR.de.
Erst mit dem neuen EU-Recht kam die Anklage
Gegen den SS-Mann wurde erst Anfang der 80er Jahre auch in Deutschland ermittelt. Doch ein Ermittlungsverfahren wurde damals von der Staatsanwaltschaft wieder eingestellt. Sie stufte sein Handeln als nicht völkerrechtswidrig ein, zudem habe er nur auf Befehl gehandelt.
Seit 2003 gibt es die Möglichkeit, Haftstrafen anderer EU-Länder auch in Deutschland zu vollstrecken. Das niederländische Justizministerium stellte einen solchen Antrag. Der Dortmunder Oberstaatsanwalt der Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen Ulrich Maaß bewertete die Taten als Morde und erhob 2007 Anklage. Das Landgericht Aachen (07.01.09) erklärte den SS-Mann zwar wegen Herzbeschwerden als zu krank, als dass gegen ihn verhandelt werden könne. Doch das Oberlandesgericht Köln (07.07.2009) und das Bundesverfassungsgericht (08.10.2009) erklärten ihn als verhandlungsfähig.