Joseph war klammheimlich auf eine Feuerwehrleiter geklettert. Die wurde dummerweise gerade zur Brandbekämpfung benötigt. Der Junge erhielt Feuerwehrhausverbot. Das war vor 35 Jahren. Als am vergangenen Dienstag (11.09.01) der Tower Two in Flammen stand, war Joseph Mistruli wieder ganz weit oben. Joe, inzwischen 47 und Fensterputzer im World Trade Center, hing in einem Korb, irgendwo zwischen dem 90. und 92. Stockwerk, als fliegende Monster die Türme fällten. Seither ist Mister Mistruli vermisst. Einer von Tausenden, die den Anschlag auf das World Trade Center wahrscheinlich nicht überlebt haben. Offiziell sprechen die Behörden von 4.700 Vermissten. In Wirklichkeit dürfte die Zahl viel höher sein. An einem gewöhnlichen Werktag arbeiteten bis zu 50.000 Menschen in den 110-stöckigen Wolkenkratzern.
Familienfotos und Liebesbriefe
Vor dem Familien-Krisen-Zentrum an der Ecke Lexington und East 26 fließen die Tränen 24 Stunden am Tag. Der wuchtige Betonklotz, in dem normalerweise das 69. Waffenregiment der US-Army stationiert ist, wurde zur Klagemauer. Die Außenwände sind mit Tausenden von Plakaten bepflastert. Handgeschriebene Notizen, Familienfotos, Liebeserklärungen. Und immer wieder das Wort MISSING! Auch Joseph Mistrulis Bild klebt an der Wand. Angelina fragt jeden, der einen Blick auf das Foto ihres Bruders wirft, ob ihn vielleicht doch noch einer lebend gesehen habe. Doch mit jeder Minute schwinden die Überlebenschancen. Das weiß auch Joes große Schwester.
Larry Boiscan, 36, trug an seinem letzten Arbeitstag im World Trade Center ein weißes Hemd, schwarze Hosen und einen grauen Blazer. Mr. Boiscan war Sicherheitsbeamter im Tower One. Seit dem Manhattan-Massaker wird auch er vermisst.
Zwei Nelken, eine gelbe und eine rote, zieren die Fotos von Lisa und Roberto Martinez. Sie arbeiteten beide im WTC. Er als Haus-Elektriker. Sie als Serviererin in der Cafeteria. Besondere Kennzeichen: Robertos linker Arm trägt die Tätowierung "Lisa". Lisas rechter Arm ist mit "Roberto" tätowiert. "Bitte helft uns, Roberto und Lisa zu finden", steht unter dem Foto. "So wunderbare Menschen wie die gibt es nicht viele.
"Please find my Daddy!"
Und dann ist da noch das Konterfei eines braungebrannten Sunnyboys namens Ernest. "Please find my Daddy!", hat ein Kind darunter gekritzelt. Daddy war bestimmt ein ganz besonderer Vater. Sein Foto habe ich mindestens ein Dutzend Mal an der Klagemauer gesehen. An der Mauer der Hoffnung spielen sich herzzerreißende Szenen ab. Ein Mädchen, vielleicht sieben, schluchzt im linken Arm der Mutter. Im rechten trägt die Mutter ein Foto ihres vermissten Mannes. Mutter und Kind schwenken amerikanische Fähnchen. God bless America.
Hoffnung und Heulen
Freiwillige Helfer servieren Würstchen, Chips und Cola. Ein Chor der Heilsarmee singt: "Hast du je, hast du je, hast du Jesus schon gesehen." Fernsehkameras rollen: "Erzählen Sie uns doch mal bitte, was für ein Mensch ihr Mann war." War, sagt der Interviewer. Nicht ist. In einer stillen Ecke hat eine ältere Frau unter einem Sonnenschirm Platz genommen. Sie bietet sich an, für vermisste Angehörige zu beten. "Prayer Service" nennt sich das in der Katastrophensprache. Ein Mädchen, vielleicht zwölf, setzt sich zu der Frau, schluchzt hemmungslos. Die Ältere legt ihren Arm um das Mädchen. "Let's pray for your daddy", sagt sie. Eine betet. Die andere heult. Beide hoffen.
New Yorker Zitate
"Wir Amerikaner sollten uns nicht mit dem Töten der Terroristen die Hände schmutzig machen. Der Präsident sollte lediglich Waffen und Leichensäcke liefern. Den Killerjob sollen diejenigen übernehmen, die das Gesindel versteckt haben."
Ein New Yorker Taxifahrer, nachdem George W. Bush im Radio Revanche angedroht hatte.
"Präsident Bush! Seien Sie ein Mann und lassen Sie endlich die Kriegshunde von der Kette!"
Handgeschriebener Plakat-Text an der West 14th Street.
"Ich weiß, dass wir ihn finden werden. Ein Engel hat es mir ins Ohr geflüstert".
Eine junge Frau, die an der Tränenmauer auf ein Lebenszeichen ihres Mannes wartet.