Eine Hymne der Bundesrepublik im Grundgesetz festzulegen, das haben die Verfassungsväter 1949 unterlassen. Die peinlichen Folgen hört Bundeskanzler Konrad Adenauer als Gast des ersten Freundschaftsspiels der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Belgien. Nach der belgischen Hymne spielt die Blaskapelle in Köln für die DFB-Elf ersatzweise den Karnevalshit "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien".
Adenauer ist umso verärgerter, hat man ihn doch zuvor auf Staatsbesuch in den USA mit "Heidewitzka, Herr Kapitän" begrüßt. Im Alleingang setzt er deshalb das in der Nazi-Zeit diskreditierte Deutschlandlied erneut als Lied der Deutschen durch – nun aber mit der dritten Strophe des Textes von Hoffmann von Fallersleben. 1952 erhält es von Bundespräsident Theodor Heuss den offiziellen Segen als Nationalhymne.
Singen hilft siegen
Zwei Jahre später gewinnt die deutsche Nationalelf in Bern sensationell den Weltmeister-Titel. Die Kapelle spielt den Siegern korrekterweise das Deutschlandlied, die Kicker um Fritz Walter aber bleiben stumm. Mit Inbrunst singen dafür die deutschen Schlachtenbummler, nur eben nicht "Einigkeit und Recht und Freiheit", sondern das altbekannte "Deutschland über alles". Lange Zeit ist es schwierig, die Nationalhymne von ihrer belasteten Vergangenheit zu lösen. Für deutsche Fußballer bleibt das Mitsingen in den nächsten 30 Jahren tabu. Bei der siegreichen Heim-WM 1974 lassen Kapitän Franz Beckenbauer und seine Mannschaft die Zeremonie eher teilnahmslos über sich ergehen.
Erst 1984, in Folge der von CDU-Kanzler Helmut Kohl ausgerufenen "geistig moralischen Wende", kommt das missachtete Staatssymbol beim Deutschen Fußball-Bund zu Ehren. Die erfolgsverwöhnte DFB-Auswahl befindet sich gerade in der Krise. Bundestrainer Jupp "Silberlocke" Derwall hat nach dem desaströsen Aus in der Gruppenphase der Europameisterschaft seinen Hut nehmen müssen. Retter in der Not ist "Kaiser" Franz Beckenbauer, der als Teamchef die Verantwortung für die Elite-Kicker übernimmt. Schon bald werden seine Ballkünstler auch als Chorknaben der Nation glänzen. Singen hilft siegen, davon ist der 1974 noch stumme "Kaiser" mittlerweile überzeugt.
Text-Handzettel und Nachhilfestunde
Zunächst sieht Beckenbauer im September 1984 bei der 1:3-Niederlage gegen Argentinien in Düsseldorf noch das gewohnte Bild: Die deutschen Spieler mundfaul wie eh, während die Gauchos, Hand auf dem Herzen, ihre Hymne aus voller Kehle schmettern. "Schon da waren die Argentinier besser", grantelt Beckenbauer über die optische und akustische Präsenz seiner Elf. "Der eine bohrt in der Nase, der nächste kaut Kaugummi und ein anderer schaut in der Gegend herum." DFB-Chef Hermann Neuberger meint: "Wir müssen das Ansehen der Nationalelf in der Öffentlichkeit verbessern."
Zum folgenden WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden macht Beckenbauer das Hymnen-Singen zur Pflicht. Um eine Blamage zu vermeiden, verteilt der DFB vorsichtshalber Handzettel mit der dritten Strophe an die Spieler, und Beckenbauer lässt zum Chor-Training antreten. Am 17. Oktober 1984 erleben 60.000 Zuschauer im Müngersdorfer Stadion in Köln die Nationalelf erstmals in offensiver Gesangs-Aufstellung. Mangelnde Lautstärke des einen oder anderen wird auf der Tribüne von Kanzler Kohl, DFB-Chef Neuberger und Schlagersänger Heino mühelos wettgemacht.
"Das schwarz-rot-goldene Empfinden bei unseren Jungs scheint nach den wohl dirigistischen Anweisungen von oben etwas ausgeprägter zu sein", beschreibt ARD-Reporter Wilfried Mohren anschließend den veränderten Kampfgeist der Deutschen. Im gemeinsamen Hymnen-Gesang zur Einigkeit verschmolzen, gewinnen sie das wichtige Spiel überzeugend mit 2:0.
Stand: 17.10.2014
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