Vorschusslorbeeren bekommt Jupp Derwall nicht zu hören, als er im Juli 1978 die Nachfolge von Bundestrainer Helmut Schön antritt. Kaum ein Fußball-Experte traut der 1927 in Würselen geborenen "rheinischen Frohnatur" zu, das Format seines erfolgreichen Vorgängers zu erreichen. "Häuptling ondulierte Silberlocke", spottet der Trainerkollege und Kolumnist Max Merkel über den silbergrauen, stets korrekt gescheitelten Derwall, der weder als aktiver Fußballer noch als Assistent Schöns einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat.
Nach dem missratenen Auftritt von Titelverteidiger Deutschland bei der WM 1978 in Argentinien erwartet Derwall mit seinem Assistenten Erich Ribbeck keine leichte Aufgabe. Doch der als fröhlich und bieder, ja sogar ahnungslos gescholtene Rheinländer bringt seine Kritiker zunächst schnell zum Schweigen. Mit einer Serie von 23 Spielen ohne Niederlage und zwölf Siegen in Folge übertrifft der neue Bundestrainer alle seine Vorgänger.
Einer, der keinem wehtun will
Im Gegensatz zum knorzigen Diktator Herberger und dem feingeistigen Übervater Schön führt Derwall seine Spieler an der "langen Leine". Mehr als Freund denn als Chef formiert er um Torhüter Toni Schumacher, Abwehrrecke Hans-Peter Briegel, Regisseur Bernd Schuster und Stürmer Horst Hrubesch ein Team, das sich mit attraktivem Offensivspiel für die Europameisterschaft 1980 in Italien qualifiziert. Nur zwei Jahre nach seinem Amtsantritt führt Derwall die DFB-Auswahl durch einen 2:1-Finalsieg gegen Belgien zum zweiten EM-Titel nach 1972. Doch mit dem Triumph in Rom hat der Bundestrainer den Gipfel seiner Karriere bereits erreicht.
Glanzlos schafft die deutsche Mannschaft die Qualifikation zur WM 1982. Harsch kritisieren Kommentatoren Derwalls Taktik und laxe Menschenführung. "Jupp war natürlich einer, der versucht hat, keinem wehzutun", sagt Hrubesch später, der wie Fischer treu zu seinem harmoniebedürftigen Trainer steht. Spielmacher Schuster aber verlässt das Nationalteam im Groll. Zwar beendet Deutschland das Turnier in Spanien als Vize-Weltmeister, in Erinnerung aber bleiben nur zwei Skandale: das als "Schande von Gijon" berüchtigte Spiel gegen Österreich, bei dem die Gegner nach einem für beide ausreichenden 1:0 alle Angriffsbemühungen einstellen, und der brachiale Kung-Fu-Tritt von Schumacher, mit dem der Kölner Torwart den Franzosen Patrick Battiston ins Krankenhaus befördert.
Später Ruhm in der Türkei
Derwalls Führungsstil gilt nun endgültig als gescheitert, seine Autorität als nicht mehr vorhanden. Begleitet von hämischer Kritik und mit Spielen, für die Franz Beckenbauer später den Begriff "Rumpelfußball" prägt, quält sich die Mannschaft zur Teilnahme an der EM 1984 in Frankreich. Bereits in der Vorrunde scheidet der Titelverteidiger aus. Nach tagelangem Sperrfeuer von Medien und Fans, das in persönlichen Beleidigungen gipfelt, gibt Jupp Derwall auf und tritt als erster Bundestrainer vorzeitig zurück. Sein Nachfolger wird – weil ohne Trainerlizenz als Teamchef - die "Lichtgestalt" Franz Beckenbauer.
Derwall wechselt umgehend in die Türkei und findet dort die Anerkennung, die ihm in der Heimat verwehrt blieb. In den folgenden fünf Jahren gewinnt er mit Galatasaray Istanbul zwei türkische Meisterschaften und den nationalen Pokal. Er trimmt den Klub auf Disziplin und Professionalität und legt so den Grundstein für die späteren "Gala"-Erfolge. Für seine Verdienste um die türkisch-deutschen Beziehungen verleiht die Universität Ankara Jupp Derwall die Ehrendoktorwürde. Nach einem Herzinfarkt 1991 zieht sich Derwall in seine saarländische Wahlheimat St. Ingbert zurück und schreibt, von der deutschen Öffentlichkeit fast vergessen, nur noch regelmäßig für das Fachblatt "kicker". Nach kurzer, schwerer Krankheit stirbt er am 26. Juni 2007 im Alter von 80 Jahren.
Stand: 26.06.2012
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