Das Tessin hat schöne Berge, Seen und ein mildes Klima: Allerdings zieht es Mitte der 1960er Jahre viele gut betuchte Deutsche nicht nur wegen der vermeintlich höheren Lebensqualität dorthin. Vielmehr können sie mit einem Schweizer Wohnsitz ihr Vermögen am deutschen Fiskus vorbei in die neue Heimat transferieren, wo nur ein Bruchteil der Abgaben anfällt.
So spart der Kaufhaus-Eigentümer Helmut Horten durch einen Umzug ins Tessin satte 250 Millionen Mark Steuern. Der Milliardär muss dank seiner Schweizer Villa die Verkaufserlöse seiner Unternehmensanteile nicht mehr beim deutschen Fiskus deklarieren, obwohl die Warenhäuser ihr Geld in Deutschland erwirtschaften.
Steuerersparnis als Standortvorteil
Als Hortens - ganz legale - Steuerersparnis öffentlich wird, ist die Empörung groß. Immerhin müssen die Kunden und Mitarbeiter, die ihn steinreich gemacht haben, weiterhin die volle Lohnsteuer abführen. Horten wird zum Paradebeispiel für die Verzerrungen im geltenden Abgabenrecht.
Dabei gelten nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa zunächst strikte Kapitalverkehrskontrollen, womit man sowohl Steuerflucht als auch Finanz- und Währungsspekulationen unterbinden will. Britische Banken weichen als Erste Mitte der 1950er Jahre die strengen Regulierungen auf. Die britische Notenbank lässt es geschehen, weil man London als Standort stärken will.
Investitionen in Übersee
Andere Länder folgen, und bald können Privatpersonen wieder Geld unkontrolliert in die Schweiz oder nach Liechtenstein, aber auch in britische Überseegebiete transferieren. Einzige Bedingung: Man muss - pro forma oder tatsächlich - in eine solche "Steueroase" übersiedeln.
So wie die Stars Hildegard Knef, Roy Black, Nadja Tiller und Walter Giller, Curd Jürgens und Oswalt Kolle, die alle samt ihrem unversteuerten Vermögen die Bundesrepublik verlassen. Der geschätzte Verlust des Staates durch die Steuer-Emigranten liegt bei rund fünf Milliarden Mark jährlich.
Mehr Steuergerechtigkeit wagen
Der neue Bundeskanzler Willy Brandt verspricht 1969 mehr Gerechtigkeit. Die Idee: Privatpersonen bleiben auch nach Umzug in "Steueroasen" noch zehn Jahre in der Bundesrepublik steuerpflichtig – mit allem, was sie in Deutschland verdienen. Siedeln sich Firmeninhaber künftig in Niedrigsteuerländern an, müssen sie ihre Unternehmensanteile in Deutschland versteuern – egal ob sie diese verkaufen oder nicht.
Der Koalitionspartner FDP ringt der SPD Abstriche von den ursprünglichen Plänen ab. Eine Schonfrist von drei Jahren wird eingeführt, in der Steuerflüchtlinge ihr Kapital straffrei nach Deutschland zurückbringen können. Zudem gilt das am 8. September 1972 erlassene Gesetz nicht - wie von der SPD geplant - rückwirkend. Wer schon im Ausland ist, kann also nicht mehr zur Kasse gebeten werden.
Internationales Abkommen gegen Steuerhinterzieher
Trotz mancher Schwächen entfaltet das neue Außensteuergesetz zunächst durchaus Wirkung. "Es ist sicherlich so, dass viele der erlassenen Maßnahmen einzelne Fluchtwege verhinderten oder zumindest erschwerten", sagt Markus Meinzer vom "Netzwerk für Steuergerechtigkeit". Wenngleich manch Vermögender auch weiterhin einfallsreich ist, wenn es darum geht, sich vor Abgaben zu drücken. Vor allem die Deregulierungen Mitte der 1980er Jahre beleben weltweit neue Steueroasen.
Mit der Finanzkrise im neuen Jahrtausend, der wachsenden Verschuldung der Industrieländer und internationalen Skandalen wie den "Offshore-Leaks" und den "Panama Papers" wächst der öffentliche Druck auf Regierungen, gegen Steuersünder vorzugehen. Jedoch können in der globalisierten Weltwirtschaft einzelne Regierungen kaum etwas gegen Steuerhinterziehung ausrichten. Als eine erste Maßnahmen haben seit 2014 mehr als 90 Staaten ein Abkommen zum automatischen Datenaustausch der Steuerbehörden unterzeichnet. Dadurch ist Steuerhinterziehung von Privatpersonen zumindest schwieriger geworden.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 8. September 2017 ebenfalls an das Außensteuergesetz. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 09.09.2017: Vor 10 Jahren: Der NDR trennt sich von Moderatorin Eva Herman