Hitchcock hat die Nase voll von teuren Technicolor-Streifen mit Star-Besetzung. Statt zu amüsieren will er das Publikum mit "Psycho" nun zum Schreien bringen. Paramount scheut das Risiko und lehnt ab, die sinistre Mörder-Story zu finanzieren. Der stets auf seine Unabhängigkeit bedachte Regisseur aber bleibt stur. Für nur 800.000 Dollar produziert er "Psycho" nach dem Roman von Robert Bloch auf eigene Rechnung und dreht in Schwarz-Weiß – unter größter Geheimhaltung - den wohl einflussreichsten und meistzitierten Thriller der Filmgeschichte.
Ein Mord gegen alle Hollywood-Regeln
Der einzige prominente Name auf der Besetzungsliste ist Jungstar Janet Leigh. Als Sekretärin Marion Crane, die 40.000 Dollar ihres Chefs unterschlagen hat, landet sie auf der Flucht, von Gewissensbissen verfolgt, im abgelegenen Motel des verklemmten Norman Bates. Dessen einzige Liebe gehört offenbar ausgestopften Vögeln und seiner unsichtbaren Mutter, die im Haus hinter dem Motel ihr Unwesen treibt. Mutter sei weder verrückt noch wahnsinnig, beruhigt Bates linkisch flirtend seinen hübschen Gast. "Sie ist höchstens ein wenig bösartig, und auch nur manchmal."
Durch bedrohliche Anspielungen auf eine falsche Fährte gelockt, fährt den Zuschauern völlig unvorbereitet der Schock in die Glieder. Gegen alle Hollywood-Regeln verurteilt Hitchcock seinen Star nach nur 30 Filmminuten zum Tod. Urplötzlich wird Marion unter der Dusche von einer schemenhaften Frauengestalt mit einem Schlachtermesser gemeuchelt. Eine ganze Woche lang muss Janet Leigh dauerduschen, bis die legendäre, nur 45 Sekunden lange Szene zur Zufriedenheit des Regisseurs im Kasten ist. Ein stakkatohaftes Crescendo von Filmkomponist Bernard Herrmann verstärkt die brutale Wucht des Mordes, obwohl in keiner der insgesamt 78 Einstellungen eine Verletzung Marions zu sehen ist.
Muttersöhnchen als Monster
Nach dem grausigen Mord gehört der Film allein Anthony Perkins, der bislang nur in Fernsehrollen aufgefallen war. Als ödipal schwerst gestörter Norman Bates spielt der 28-Jährige die Rolle seines Lebens. Besitzt er anfangs noch die Sympathien des Publikums, entlarvt Hitchcock den morbiden Motelbesitzer nun Schritt für Schritt als schizophrenes Monster. Zehn Jahre zuvor hat Bates selbst seine herrschsüchtige Mutter wegen einer Sex-Eskapade vergiftet. Um die Tat quasi ungeschehen zu machen, wird die Mutter zu Normans zweitem Ich. Er lebt weiter mit ihrer mumifizierten Leiche zusammen und bringt in ihrer Rolle zwanghaft jede Frau um, die "unreine" Gefühle in ihm weckt.
Es gelingt Hitchcock tatsächlich, die makabre Schlusspointe bis zum Filmstart geheim zu halten. Als "Psycho" am 7. Oktober 1960, kurz nach der US-Erstaufführung, seine deutsche Premiere feiert, verurteilt ein Kritiker den Schocker als "Schmutzflecken auf einer ehrenwerten Karriere". Kirchenvertreter und Psychiater warnen Besucher vor ernsten seelischen Schäden. Das Publikum aber verfällt dem düsteren Thrill, macht das Meisterwerk zum sensationellen Erfolg und beschert Hitchcock einen Gewinn von rund 20 Millionen Dollar. Drei Jahre später unternimmt der Regie-Altmeister den nächsten Frontalangriff auf die Nerven der Zuschauer und krönt sein Spätwerk mit dem Horrorfilm "Die Vögel".
Stand: 07.10.2015
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.