Atomuhr "CS 2" in physikalisch-technischer Bundesanstalt in Braunschweig

Stichtag

16. September 1935 - Erste automatische Zeitansage der Berliner Post

Die Zeit in Minuten, ja in Sekunden einzuteilen, das kommt den Menschen der Postkutschenära noch nicht in den Sinn. Sonnenstand und Kirchturmuhr reichen den meisten als Chronometer. Verabredungen finden etwa "um die vierte Stunde" statt, wann immer das genau ist.

Bis Motorisierung und Elektrifizierung dem Lauf der Zeit mächtig Beine machen. Je hektischer das Leben zur Jahrhundertwende, umso wichtiger wird, wann die Stunde geschlagen hat. Das weiß das "Fräulein vom Amt". So lange Telefongespräche handvermittelt werden, gibt sie jedem Anrufer die Zeit auf Wunsch persönlich bekannt. Die Fernsprechbeamtin liest dazu einfach so korrekt wie möglich eine große Wanduhr vor ihrer Nase ab.

Fotozellen ersetzen Anna Nulpe

"Eiserne Jungfrau" wird die Zeitansage genannt, da die Reichspost in der Handvermittlung aus Gründen der Schicklichkeit nur ledige Frauen beschäftigt. Die Berliner geben der Stimme aus dem Fernsprechamt den Spitznamen "Fräulein AO" oder respektloser "Anna Nulpe" – nach der Telefonnummer A Null der Zeitansage. Zehn Pfennig kostet ein Anruf; um die Nachfrage bewältigen zu können, beschäftigt die Reichspost ein ganzes Heer von Anna Nulpes.

Die Erfindung des Lichttonfilms liefert die technische Voraussetzung, die Uhrzeitangabe zu rationalisieren. 1935 stellt die Berliner Firma Siemens & Halske den ersten Zeitansage-Automaten vor. Die neue „Eiserne Jungfrau“, wie die monströse Maschine schnell getauft wird, speichert Sprache als Hell-Dunkel-Wert auf einem Film. Wählt ein Teilnehmer die Nummer der Zeitansage, bringt eine Steuerung zwei bewegliche Fotozellen jeweils an die richtige Position und die passende Kombination von Stunden- und Minutentext wird abgespielt. Am 16. September 1935 nimmt die "Eiserne Jungfrau" in Berlin ihre Arbeit auf, zunächst noch ohne Angabe der Sekunden.

Die Zeit wird omnipräsent

In der ersten Woche wählen fast 100.000 Anrufer die Nummer der automatischen Zeitansage. Nicht wenige Teilnehmer versuchen, mit dem maschinellen Fräulein vom Amt zu flirten. Die Stimme der Postbeamtin, die in monotoner Arbeit die Zeit eingesprochen hat, wird den Deutschen so vertraut, dass die Post sie nach dem Krieg für die Neuaufnahme auswählt. Seither heißt es bei jedem Anruf: "Beim nächsten Ton des Zeitzeichens ist es …". 1958 wird der Lichtton durch das neue Magnetton-Verfahren abgelöst. Die erste "Eiserne Jungfrau" wandert ins Frankfurter Museum für Kommunikation, wo sie noch heute in Betrieb zu sehen und zu hören ist. Für die Bundespost entwickelt sich der Ansage-Dienst zur wahren Goldgrube.

Die 119 ist die meistgewählte Nummer der Bundesrepublik, denn zuverlässige, durch Atomuhren wie in der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig ferngesteuerte Funkuhren verbreiten sich erst allmählich. Noch in den 80er Jahren verdient die Post jährlich rund 50 Millionen Mark allein mit der genauen Zeit. Der Siegeszug der Digitaltechnologie beendet die Erfolgsgeschichte der "Eisernen Jungfrau". Seither hat jeder ständig und überall im öffentlichen Raum, im Auto, am PC und auf dem Handy die Uhrzeit vor Augen. Die Zeitansage per Telefon hat dennoch überlebt  – unter der Nummer 0180 4100 100, für 20 Cent pro Anruf. Und wenn im Frühjahr und Herbst die Uhren umgestellt werden, dann rotiert die "Eiserne Jungfrau" – technisch auf neuestem Stand – kurzfristig wieder fast wie in alten Zeiten.

Stand: 16.09.2015

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