Einen modernen und effizienten Staat mit festen Strukturen und fleißigen Untertanen - das wünscht sich Friedrich Wilhelm I., König in Preußen. Doch die mangelnde Bildung seiner Bevölkerung bereitet ihm Sorgen.
Für die Kirche, die die meisten Schulen betreibt, liegt das Problem bei den Eltern. Sie würden ihre Kinder nicht zum Unterricht schicken und "dadurch die arme Jugend in großer Unwissenheit aufwachsen lassen". Aber auch die Auswahl des Lehrpersonals ist alles andere als optimal. Dieses rekrutiert sich aus Freiwilligen - meist Soldaten oder ausgebildete Handwerker. Wer einigermaßen lesen sowie schreiben und zudem das Vaterunser aufsagen kann, besitzt schon das Zeug zum Schulmeister.
Der erst 29-jährige Monarch, der das rückständige Preußen dringend reformieren will, reagiert: Am 28. September 1717 verordnet Friedrich Wilhelm I. "allergnaedigst und ernstlich" die Schulpflicht für seine Länder.
Der Preußenkönig verlangt, dass alle Fünf- bis Zwölfjährigen die Schulbank drücken - Jungen wie Mädchen. Im Winter sollen sie täglich; im Sommer, wenn sie als Arbeitskräfte auf dem Feld gebraucht werden, wenigstens ein- oder zweimal in der Woche die Schule besuchen.
Langer Schulweg, kaum Unterstützung
Was nach wenig klingt, bedeutet für die schwer schuftende Landbevölkerung Zeit und Geld. Zum einen haben viele Kinder einen stundenlangen Schulweg. Zum anderen sollen die Eltern Schulgeld bezahlen - nur in Härtefällen springt die örtliche Armenkasse ein. Außerdem müssen die Schüler ihr Essen mitbringen. Schulspeisungen werden erst später eingeführt.
Das sind aber nicht die einzigen Gründe, weshalb sich der Aufbau eines Bildungssystems als zäher Prozess erweist. Neben den Kindern und deren Eltern nimmt Friedrich Wilhelm I. auch den Staat in die Pflicht. Er soll für geeignete Rahmenbedingungen sorgen. So werden mit der Verpflichtung zum Schulbesuch auch Lehrinhalte, die Lehrerausbildung und die Bereitstellung von Schulgebäuden festgelegt. Geld fließt dafür jedoch nicht. Daher zeigt die Anordnung des Königs zunächst wenig Wirkung.
In der Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber öffentlichen Schulen groß. Wohlhabende Eltern hadern mit dem Lehrstoff und lassen ihre Kinder lieber zu Hause unterrichten. Ärmere fürchten, dass die Kinder krank werden und Haltungsschäden bekommen, wenn sie den ganzen Tag in dunklen Räumen hocken, statt sich an der frischen Luft zu bewegen.
Aus Schulpflicht wird Recht auf Bildung
Doch trotz aller Widerstände bleibt die Schulpflicht. Thronfolger Friedrich II. führt fort, was sein Vater begonnen hat. Er konkretisiert die Lehrpläne und modernisiert die Lehrerausbildung - auch mit Hilfe von Pädagogen und Gelehrten wie Wilhelm von Humboldt. Dieser vertritt die Idee, dass Menschen nicht durch Geburtsrecht, sondern durch Bildung eine Position erreichen können.
Es ist ein Perspektivwechsel. Aus der Schulpflicht wird ein Recht auf Bildung für jedes Kind abgeleitet. Das wirkt nach: Heute ist Bildung laut der Vereinten Nationen ein unantastbares Menschenrecht.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Steffi Tenhaven
Redaktion: Frank Zirpins
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