"Niemanden läßt Materas Anblick kalt - so überwältigend ist seine herzzerreißende Schönheit", schreibt Carlo Levi. Der italienische Schriftsteller wird während des italienischen Faschismus nach Lukanien – wie der süditalienische Landstrich um Matera seinerzeit noch heißt – verbannt.
Die "herzzerreißende Schönheit" liegt auf einem Felsplateau in der heutigen Region Basilikata. In die Wände der Schlucht haben Menschen seit der Jungsteinzeit Wohn-Höhlen geschlagen. So ist ein Meer von verwinkelten Behausungen, die über unzählige Treppen miteinander verbunden sind, entstanden. Ein faszinierender Anblick – zumindest aus der Ferne.
Mensch und Tier in einem Raum
Denn als Levis Schwester die Siedlung besucht und ins Innere der Unterkünfte blickt, ist sie geschockt. "Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine. Im Allgemeinen verfügt jede Familie nur über eine solche Höhle", zitiert Levi in seinem Roman "Christus kam nur bis Eboli" den Bericht seiner Schwester.
"Und darin schlafen alle zusammen: Männer, Frauen, Kinder und Tiere. So leben zwanzigtausend Menschen." Die Höhlen-Bewohner arbeiten als Bauern und Hirten auf den Feldern der Wohlhabenden, die in der Oberstadt von Matera leben.
Durch Levis Roman werden auch die Behörden auf die rückständigen Zustände in den "Sassi" genannten Höhlen aufmerksam. Die Politiker in Rom sprechen nun von Matera als "Schandflecken Italiens."
Sondergesetz zur Räumung
Nach einem Besuch veranlasst Ministerpräsident Alcide de Gasperi einen Gesetzentwurf zur Sanierung der Höhlen. Das "Sondergesetz zur Räumung der Sassi von Matera" tritt am 17. Mai 1952 in Kraft. Die alten Behausungen werden nun für unbewohnbar erklärt und sollen abgerissen werden.
Die meisten Bewohner der alten Sassi ziehen in die Vorstadt, in neue Etagenwohnungen mit Einbauküchen und Badezimmern. Die Felshöhlen bleiben verlassen zurück und drohen zu verfallen.
Die Wiedergeburt des "Schandfleckens"
1959 wird die Kulturinitiative "La Scaletta" gegründet, um die Höhlen zu retten. "Die Sassi wurden nicht von Päpsten oder Kaisern erbaut, sondern vom Volk", erklärt der ehemalige Bürgermeister Raffaello De Ruggieri. "Sie sind ein Gemeinschaftswerk, geschaffen von Baumeistern über Tausende von Jahren mit dem Wissen und dem Können der einfachen Leute."
Dank "La Scaletta" kehren mit der Zeit auch die Bewohner zurück und sanieren die zerfallenen Höhlen zu Wohnhäusern, Restaurants, Museen und Hotels um. Ein mühseliges Unterfangen, weil das Bau-Material größtenteils nur mit Schubkarren transportiert werden kann. Der Denkmalschutz erlaubt zudem nur historische Materialien und Farben: die Mauern im Sandton, die Türen dunkelgrün.
Unesco-Weltkulturerbe und Europäische Kulturhauptstadt
Doch die Mühen machen sich bezahlt: Matera wird 1993 in die Liste des Unesco-Weltkulturerbes aufgenommen, damit fließen auch mehr Fördergelder. 2019 wird der ehemalige "Schandfleck" der Nation sogar Europäische Kulturhauptstadt und zieht Besucher aus der ganzen Welt an.
Zudem bilden die uralten Steinbauten eine herrliche Kulisse für historische Filme. Regisseur Pier Paolo Pasolini lässt in Matera das "1. Evangelium Matthäus" drehen, später folgen die Verfilmungen von Levis "Christus kam nur bis Eboli" und Mel Gibsons "Die Passion Christi". Und sogar James Bond raste in "Keine Zeit zu sterben" durch die schmalen Gassen von Matera.
Autor des Hörfunkbeitrags: Hildburg Heider
Redaktion: David Rother
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 17. Mai 2022 an die Höhlenstadt Matera. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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