Laut Hermann Hesse ist sie die "wohl beste Märchenerzählerin Deutschlands": Lisa Tetzner wandert nach dem Ersten Weltkrieg fünf Jahre lang erzählend durch die Dörfer in Süd- und Mitteldeutschland, durch das Rheinland und das Ruhrgebiet. Mit ihrem Wanderstab, dem schlichten Gewand und den geflochtenen Haaren erinnert sie selbst an die Gänsemagd aus dem Märchen.
Tetzner wird 1894 als Tochter eines erzkonservativen Arztes im sächsischen Zittau geboren. Gegen den Willen des Vaters besucht die 19-Jährige die "Soziale Frauenschule" in Berlin, um den damals neuen Beruf der "Fürsorgerin" zu erlernen - eine Mischung aus Krankenschwester und Streetworkerin.
Nachdem sie 1916 einen dänischen Märchenerzähler hört, ändert Lisa kurzentschlossen ihre Pläne: Sie nimmt Unterricht in Vortragskunst, um die Märchen "aus ihrem Büchersarg zu befreien" - und sie zieht zum Entsetzen der Eltern los, als wandernde Erzählerin. Dabei fällt ihr das Laufen nicht leicht: Eine Knochentuberkulose zwang sie mit elf Jahren für Monate ins Bett und führte zu einer Versteifung ihres linken Knies.
Tetzners schicksalhafte Begegnung
Auf ihren Wanderungen trifft Lisa viele Gleichgesinnte. Überall entstehen nach dem Ersten Weltkrieg jugendbewegte Gruppen, die Kultur unters Volk bringen wollen. Besonders schicksalhaft ist eine Begegnung im Frühjahr 1919 auf einer Kirmes in Lauscha in Thüringen: Kurt Kläber heißt der Wanderbuchhändler, der sich Lisa als "Berufsrevolutionär" vorstellt. Der drei Jahre jüngere gelernte Schlosser wird Tetzners große Liebe: Die beiden heiraten 1924 und bleiben bis zu seinem Tod ein eingeschworenes Team.
Weil sich Tetzner bei ihren Wanderungen übernimmt, erkrankt sie noch einmal schwer: Monatelang muss sie auf dem Rücken liegen. Doch die 27-Jährige lässt sich auch davon nicht unterkriegen, beginnt - neben der Herausgabe internationaler Märchen - eigene, meist sozialkritische Kinderbücher zu verfassen. Ab 1927 übernimmt sie das Kinderprogramm des Berliner Rundfunks.
Flucht in die Schweiz
1933 flieht Tetzner mit ihrem Mann vor den Nazis in die Schweiz. Dort entsteht Lisa Tetzners berühmtestes Werk: "Die Kinder aus Nr. 67" - neun Bände über Kinder aus einer Berliner Mietskaserne, die durch Faschismus und Krieg in alle Welt verstreut werden. Nebenbei arbeitet Tetzner als Sprecherzieherin oder hält Vorträge, weil das Schreiben allein nicht genug Geld bringt.
Kurt, der Berufsverbot hat, baut Gemüse an und beginnt ebenfalls Jugendbücher zu verfassen. 1940 schreibt das Paar zusammen "Die Schwarzen Brüder". Ein Jahr später veröffentlicht Kläber unter dem Pseudonym Kurt Held mit "Die rote Zora" sein erfolgreichstes Buch. Auch Tetzner hat viel für fantastische Kinderliteratur übrig. Sie engagiert sich unter anderem für Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" und verhilft dem rothaarigen Mädchen so zum Erfolg im deutschsprachigen Raum.
Im Dezember 1959 stirbt Kläber - und lässt seine Frau untröstlich zurück. Ihre letzten Jahre verbringt sie damit, ein Buch über ihn zu schreiben. Bevor sie ihrem Mann am 2. Juli 1963 folgt, schreibt Lisa Tetzner an einen Freund: "Es war ein gutes Leben."
Autorin des Hörfunkbeitrags: Christiane Kopka
Redaktion: David Rother
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