Nach dem Anruf eines Mitglieds der Roten Brigaden findet die Polizei am 9. Mai 1978 die Leiche von Aldo Moro. Sie liegt im Kofferraum eines roten Renaults R4 unter einer Wolldecke. Italiens Innenminister Francesco Cossiga identifiziert den toten Präsidenten der italienischen Christdemokraten noch am Fundort in der Via Caetani in Rom.
Den Wagen haben die Linksextremen bewusst dort platziert: auf halber Strecke zwischen den Parteizentralen von Moros "Democrazia Cristiana" (DC) und der "Partito Comunista Italiano" (PCI), den italienischen Kommunisten.
Moro strebt "historischen Kompromiss" an
Der Hintergrund: Knapp zwei Jahre zuvor holt die PCI im Juni 1976 bei den Parlamentswahlen fast 35 Prozent der Stimmen und wird hinter der "Democrazia Cristiana" zweitstärkste Kraft. Aldo Moro, der Rechtsprofessor aus Apulien, Katholik und vierfacher Vater, will die Spaltung des Landes in ein linkes und rechtes politisches Lager überwinden. Der frühere Ministerpräsident gilt als strategischer Kopf der DC.
Mit PCI-Chef Enrico Berlinguer handelt Moro den "historischen Kompromiss" aus: eine schrittweise Beteiligung der Kommunisten an der Macht. Ein Ziel, das nicht allen gefällt. Denn die Christdemokraten regieren Italien seit dem Zweiten Weltkrieg ununterbrochen. Aber inzwischen ist viel passiert.
Geheimdienste unterstützen rechten Terror
Ab 1969 hat es in Italien eine Serie rechtsterroristischer Attacken auf Zivilisten gegeben. Dazu gehören Bombenanschläge auf Züge, Bahnhöfe und Versammlungen mit insgesamt mehr als 100 Toten. Anfang der 1970er-Jahre legen Staatsanwälte enge Verbindungen zwischen rechtsextremen Kreisen und staatlichen Organisationen offen.
Beim Terror von rechts mischen die Geheimdienste mit. Die immer weiter nach links rückenden Wähler sollen dazu gebracht werden, nach einem autoritären Staat zu rufen. Linke Kreise schließen daraus, der Staat versuche, die Kommunistische Partei von der Macht fernzuhalten. Die Roten Brigaden beginnen, Anschläge auf Repräsentanten von Staat und Wirtschaft zu verüben - ähnlich wie die RAF in der Bundesrepublik.
Rote Brigaden hoffen auf Revolution
Schließlich überzeugt Moro seine Partei von der Notwendigkeit der "historischen Kompromisses". Auch sein größter innerparteilicher Konkurrent Giulio Andreotti schließt sich ihm an. Am 16. März 1978 soll das Parlament über die neue Regierung abstimmen. Moro ist auf dem Weg dorthin, als die Roten Brigaden bei einem fingierten Auffahrunfall zuschlagen - ähnlich wie RAF bei der Entführung von Hanns Martin Schleyer.
Der Wagen von Aldo Moro wird von Kugeln durchsiebt. Vier Leibwächter und der Fahrer sterben, Moro wird entführt. Die Roten Brigaden wollen einen Zusammenbruch des Staates erreichen und eine Revolution entfachen. Doch es passiert genau das Gegenteil: Die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, auf Demonstrationen wird die Freilassung Moros gefordert.
Pannen bei der Fahndung
Regierungschef Andreotti schließt Verhandlungen mit den Entführern aus. Auch dann noch, als eine Serie von Pannen und Ungereimtheiten die Unfähigkeit des Staates zeigen, Moro zu finden. Großfahndungen bleiben ohne Erfolg. Will der Staat das am Ende so? Weil Moro die Hand zu weit nach links ausgestreckt hat? Verschwörungserzählungen tauchen auf.
Auch die USA werden verdächtigt. Es ist bekannt, dass Washington fürchtet, ein moskaufreundliches Italien könnte mitten im Kalten Krieg die Nato verlassen. Die USA schicken den Terrorismus-Experten Steve Pienczenik nach Rom, um Innenminister Cossiga zu unterstützen.
Regierung erklärt Moro für unzurechnunsfähig
Nach Wochen übermitteln die "Brigate Rosse" die ersten von rund 80 Briefen, die Moro im "Volksgefängnis" verfasst. Darin heißt es unter anderem, er sei einem "Volksprozess" unterworfen, bei dem er Gefahr laufe, "gezwungenermaßen Dinge zu sagen, die in bestimmten Situationen durchaus unangenehm oder gefährlich sein könnten".
Deutet Moro damit an, wichtige Parteigeheimnisse zu lüften? Die Regierung lässt ihn jedenfalls für unzurechnungsfähig erklären. Noch Jahre später wird sich Moros Witwe Eleonora darüber empören: "All dies ist von meinem Mann geschrieben und von ihm gedacht."
Papst hält Totenmesse
Papst Paul VI., ein Studienfreund Moros, appelliert an die Entführer: "Ich flehe Euch auf Knien an: Lasst den ehrenwerten Aldo Moro frei." Am 1. Mai erklärt Moro in einem seiner Briefe den Austritt aus der "Democrazia Cristiana". Acht Tage wird er erschossen.
Die vom Papst zelebrierte Totenmesse ist ein Staatsbegräbnis ohne Sarg, ohne Angehörigen. Sie haben Moro bereits im Familiengrab beigesetzt und dabei die Anwesenheit von Politikern untersagt. Der "historische Kompromiss" zwischen Christdemokraten und Kommunisten wird nie verwirklicht. Moros Entführer werden 1979 festgenommen und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.
Autorin des Hörfunkbeitrags: Edda Dammmüller
Redaktion: Matti Hesse
Programmtipps:
ZeitZeichen auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 9. Mai 2023 an die Entführung von Aldo Moro. Das ZeitZeichen gibt es auch als Podcast.
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