Rom, 16. März 1978: Der Vorsitzende der Christdemokraten, Aldo Moro, ist auf dem Weg ins Parlament, als seine Wagenkolonne gegen 9.15 Uhr von einem Kommando der Roten Brigaden gestoppt wird. Die vier Sicherheitsbeamten und der Chauffeur des 61-jährigen Politikers werden von den Linksextremisten erschossen. Moro wird als Geisel genommen und in einem Auto entführt. Inhaftierte Mitglieder der Roten Brigaden sollen freigepresst werden. Nach 55 Tagen Geiselhaft wird Moro getötet und schließlich im Kofferraum eines Autos aufgefunden.
Als Aldo Moro am 23. September 1916 im süditalienischen Maglie auf die Welt kommt, führt sein Land gerade Krieg gegen Deutschland. Als er 20 Jahre später Jura an der Universität Bari studiert, sind Italien und Deutschland Verbündete - im Faschismus. In Berlin regiert Adolf Hitler, in Rom ist Benito Mussolini an der Macht. Moro engagiert sich politisch, aber nicht bei den Faschisten. "Er war ein Mann mit festen Grundsätzen", sagt Historiker und Italien-Experte Rudolf Lill. "Moro war ein Linkskatholik." 1939 übernimmt der Beamtensohn den Vorsitz des italienischen Bundes katholischer Studenten. "Sie wollten eine Reform von Staat und Gesellschaft, eine Sozialreform und Partizipation, aber auf christlicher Grundlage."
Sozialisten und Kommunisten integriert
Nach dem Sturz des faschistischen Regimes und dem Ende des Zweiten Weltkrieges geht Moro für die Christdemokraten ins Parlament. Als Abgeordneter Baris wird er 1946 in die Nationalversammlung gewählt und beteiligt sich dort an der neuen Verfassung der jungen italienischen Republik. Sein erstes Regierungsamt übernimmt er 1949 als Unterstaatssekretär im Außenministerium. Es folgen Stationen als Justiz- und später als Erziehungsminister. Ende 1959 wird Moro Parteisekretär der Democrazia Cristiana (DC) und führt seine Partei in die Allianz mit den Sozialisten. Seine Strategie: Zum einen sollen die nach links tendierenden Wähler wieder eingefangen und zum anderen die Sozialisten von den Kommunisten getrennt werden.
Die Rechnung geht zunächst auf: Im Dezember 1963 bildet Moro die erste Mitte-Links-Regierung mit den Sozialisten. Doch nach den Studentenunruhen im November 1967 schneiden die Mitte-Links-Parteien bei den Wahlen von 1968 schlecht ab. Moro verliert seinen Ministerpräsidenten-Posten und wird in der neuen, nur aus Christdemokraten bestehenden Regierung Außenminister. 1974 übernimmt er nach einer Regierungskrise wieder das Amt des Ministerpräsidenten, das er bis zum April 1976 als Chef der letzten Mitte-Links-Regierung ausübt. Im Oktober 1976 wird Moro Präsident seiner Partei und zum Verfechter einer Annäherung der DC an die Kommunistische Partei, die ihre Position bei den Parlamentswahlen vom Juni 1976 weiter ausbauen konnte. "Moro hat 1960/62 versucht, die Sozialisten zu integrieren, was relativ leicht war", sagt Historiker Lill, "und in den 70er Jahren hat er dasselbe mit den Kommunisten versucht und fand in dem reformistischen Kommunistenführer Enrico Berlinguer einen Partner für diese Politik."
Radikale Linke, Mafia und USA als Gegner
Das passt der radikalen Linken nicht. Sie will den Sturz des gesamten politischen Systems. "Die Christdemokraten wollten das System erhalten, und Moro mit seiner Annäherungspolitik war doch nur zu Änderungen bereit, damit am Ende alles beim Alten blieb", erinnert sich ein früheres Mitglied der "Union marxistisch-leninistischer Kommunisten". Aber auch ganz andere Akteure sind mit Moros politischer Annäherung an die Reformkommunisten nicht einverstanden: Die Mafia befürchtet, das Land könne so langfristig stabilisiert werden, und das US State Departement erklärt im Januar 1978: "Die Führung der Vereinten Nationen von Amerika ist gegen eine Beteiligung von Kommunisten an der Regierung befreundeter Länder."
Zwei Monate später wird der Architekt der Annäherungspolitik von den Roten Brigaden entführt - eine Stunde vor der Regierungserklärung des Christdemokraten Giulio Andreotti, der als erster italienischer Ministerpräsident mit der aktiven Unterstützung der KPI rechnen kann. Moro wird in einer Wohnung in Rom gefangen gehalten. 35.000 Polizisten suchen nach ihm. Zwei Mal kommen sie dem Versteck sehr nahe, brechen die Suche aber ab. Will man Moro nicht finden? Über diese Frage wird in Italien jahrzehntelang gestritten. Neuste Untersuchungen schließen eine aktive Rolle des italienischen Geheimdienstes und der CIA bei der Entführung aus.
Christdemokraten lehnen Verhandlungen ab
Dennoch bleiben Zweifel. "Niemand behauptet, dass der Linksterrorismus ein von außen gesteuertes Phänomen war, also eine pure Erfindung des Geheimdienstes", sagt der Buchautor Gianni Barbacetto. "Aber wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er seine Finger im Spiel hatte." Im besten Fall habe er die Terroristen gewähren lassen. "Die Gefahr von links war nützlich." Denn sie schürt Angst und begünstigt einen Rechtsruck in der Bevölkerung. Den wünschen sich auch jene Teile der christdemokratischen Partei, die Moros Annäherungspolitik nicht gutheißen. "Seine Feinde waren nicht nur die Roten Brigaden, seine Feinde standen auch rechts", sagt Barbacetto.
Die Regierung Andreottis lehnt Verhandlungen mit den Roten Brigaden strikt ab und weist Vermittler, die sich anbieten, zurück. Am 5. Mai 1978 ist die Geduld der Entführer am Ende. Sie teilen mit: "Wir beenden den Kampf, der am 16. März begonnen hat, mit der Ausführung des Urteils, das über Aldo Moro gesprochen worden ist." Zwei Tage später erhält Moros Frau einen Abschiedsbrief: "Liebe Norina ... sie haben mir gesagt, dass sie mich bald töten werden." Am 9. Mai 1978 wird die Leiche von Aldo Moro nach einem Telefonanruf der Roten Brigaden in der Innenstadt Roms in einem roten Renault R4 aufgefunden. Ein Staatsbegräbnis hat er nicht gewollt. Vom Staat hat er sich im Stich gelassen gefühlt.
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