Giacomo Casanova fühlt sich miserabel. Seine Hämorrhoiden machen ihm zu schaffen, ebenso wie Fieber und Schüttelfrost, und Legionen von Flöhen saugen ihm "mit unbeschreiblicher Hartnäckigkeit und Begier" das Blut aus den Adern. Unter den Bleiplatten des Daches vom Dogenpalast nahe der Seufzerbrücke in Venedig ist es im Winter unerträglich kalt. Und dem Frauenschwarm fehlt die Damenwelt.
Casanova beschließt, aus den berüchtigten Bleikammern der Inquisition zu fliehen. Wenn es einer schaffen kann, dann er. "Ich habe immer daran geglaubt, dass ein Mensch, der es sich in den Kopf setzt, irgendeinen Plan auszuführen, trotz aller Schwierigkeiten zum Ziel kommen muss", lautet sein Lebensmotto.
"Schmähungen gegen die heilige Religion"
Warum Casanova am 26. Juli 1755 in den Bleikammern inhaftiert wird, ist nicht restlos geklärt. Seine Wirkung auf Frauen jedenfalls kann nicht der Grund gewesen sein. Die Sitten zur Mitte des 18. Jahrhunderts sind ohnehin eher locker in Venedig – sicher auch ein Grund, warum Casanova zwei Jahre zuvor nach langen Reisen in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist. Auch sind die Bleikammern ein Hochsicherheitstrakt für politische Gefangene – moralische Verfehlungen führen eher nicht dorthin.
Tatsache ist, dass der erklärte Freigeist und Kritiker der Religion mit seinen Äußerungen die Inquisition auf sich aufmerksam macht. Die setzt 1755 einen Spitzel auf ihn an, der Beweise für "Schmähungen gegen die heilige Religion" sammeln soll. Die Anklage lässt nicht lange auf sich warten. Verbotene Bücher soll Casanova besitzen, der Magie soll er frönen. Zudem verführe er junge Menschen zum Atheismus und betrüge im Spiel. So lautet der Vorwurf seiner Häscher, von dem man den Schürzenjäger aber nicht in Kenntnis setzt. Kein Wunder also, dass der 31-Jährige zunächst an einen Irrtum glaubt.
Der rettende Engel
Als Casanova im November immer noch in Haft sitzt, beschließt er auszubrechen. "Der einzige Gedanke, der mich beherrschte, war die Flucht", wird er später in seinen Erinnerungen notieren. Auf dem Dachboden, auf dem er täglich Ausgang hat, findet er einen Eisenriegel und ein Stück Marmor. Mit diesen Utensilien gräbt er ein Loch in den Fußboden seiner Zelle. Als das Loch nach monatelanger Arbeit fast groß genug ist, wird er in eine andere Zelle verlegt. Da der Wärter den Ausbruchsversuch bemerkt, wird Casanova nun strenger bewacht.
Aber Casanova findet in einem Mitgefangenen, Pater Balbi, einen Verbündeten. Er lässt ihm sein Werkzeug zukommen, versteckt in einer Bibel. Balbi durchbricht die eigene Zellendecke, um dann über den Dachboden zu Casanova zu gelangen. Zuvor aber muss Casanova einen Zellengenossen mit viel Hokuspokus davon überzeugen, dass die Jungfrau Maria ihm einen Engel schicken will. Im Oktober 1756 ist es endlich soweit. "Schlag elf Uhr erschien der Engel“, schreibt Casanova später. „Ein schönes rundes Brett fiel mir vor die Füße, und Pater Balbi sank in meine Arme.“
Nachdem Casanova die Bleiplatten des Daches abgedeckt hat, kriecht er mit seinem Komplizen auf allen Vieren das schräge Dach hinauf und bekommt bei einem Sturz nur mit viel Glück die Dachrinne zu fassen. Dann hangeln sich beide hinab. Casanova reist nach Paris, wo sich die Geschichte seiner spektakulären Flucht bereits herumgesprochen hat. Das Abenteuer öffnet dem Schürzenjäger die Tore zu Europas Könighäusern, sein Buch über die Flucht wird zum Bestseller. Nun ist sein verwegenes Leben endgültig in aller Munde.
Stand: 26.07.2015
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