Publicity hat Andreas G. nie gesucht, im Gegenteil. Er hat nie mit einer Zeitung gesprochen oder in einer TV-Show gesessen, um seine Version der Geschichte zu erzählen. Keiner weiß, wie und wo der 30-Jährige heute lebt.
Vor zehn Jahren ist das Foto von Andreas G. um die Welt gegangen und hat einen Medienhype ausgelöst. Namenlos, wie ein moderner Kaspar Hauser, war er plötzlich am Mündungsdelta der Themse im Südosten Englands aufgetaucht. Selbst in Australien interessieren sich die Menschen für die mysteriöse Story des Blonden mit den traurigen Augen, der scheinbar sein Gedächtnis verloren hat.
Rätselraten um stummen Klavierspieler
Im schwarzen Anzug und nass bis auf die Knochen irrt der junge Mann am 7. April 2005 über den Strand von Sheerness. Er ist offenbar verwirrt, hat keine Papiere dabei und bleibt stumm; nichts verrät seine Herkunft. Man bringt ihn in eine psychiatrische Klinik, wo er wochenlang kein Wort spricht. Ratlos wenden sich seine Betreuer an die Öffentlichkeit. Die ersten Reporter, die über den Findling berichten, spekulieren: "Ist er von einem Boot geflüchtet, ist er von einem Schiff in der Themse-Mündung gefallen, wurde er ausgeraubt und ihm auf den Kopf geschlagen?" Zahlreiche Hinweise gehen daraufhin in der Klinik ein, doch die Identität des Verstummten bleibt ein Rätsel.
Als der Patient einen Konzertflügel zeichnet, setzt man ihn an ein Klavier und er beginnt zu spielen. Die Pfleger erzählen: "Er verliert sich in seiner Musik. Wenn er nicht spielt, starrt er nur geradeaus und lässt niemanden an sich heran." Die Nachricht befeuert Spekulationen in den Medien. Ist der blonde "Piano Man" am Ende ein begnadeter Musiker? Auch die deutsche Presse rätselt über das "Geheimnis des englischen Patienten". "Bild" fragt: "Ist der Piano-Mann ein Tscheche?" und Tage später: "Stummer Piano-Mann ein Norweger?" Erst nach vier Monaten offenbart sich der Patient den Ärzten – und zwar auf Deutsch. Er heißt Andreas G., ist 20 Jahre alt und Student aus einem Städtchen in der Oberpfalz.
Vom Mediendarling zum Hochstapler
Mit der Fähre sei er aus Frankreich nach England gekommen, an mehr kann sich Andreas G. nicht erinnern. Die englischen Ärzte diagnostizieren bei ihm eine schwere Psychose. Der Kölner Psychiater Manfred Lütz kennt solche Fälle und vermutet bei Andreas G. eine sogenannte Dissoziative Fugue: "Das heißt, in einer Belastungssituation fährt der Patient plötzlich schlagartig weg (…) und wird dann irgendwo aufgefunden. Er weiß gar nicht mehr, wie er dahin gekommen ist und hat möglicherweise eine Amnesie für die Zeit. Solche Phänomene gibt es, wenn auch sehr selten." Von der Presse verfolgt, kehrt Andreas G. zurück auf den elterlichen Bauernhof in der Oberpfalz, gegenüber der Öffentlichkeit bleibt er stumm.
Dafür reden die Nachbarn. Der habe wohl alle an der Nase herumgeführt, heißt es. Genoss Andreas G. als anonymer "Piano Man" noch alle Sympathien, wird er nun als geltungssüchtiger "Simulant vom Strand" abgestempelt. Für "Bild" ist er "ein Hochstapler aus Bayern", der gar nicht Klavier spielen kann. Der "Kölner Stadt-Anzeiger" resümiert: "Der Piano-Mann spielte falsch". Damit endet der Hype um den Medienstar wider Willen. Was vor zehn Jahren wirklich geschehen ist, bleibt unklar. Keiner der Beteiligten will sich heute dazu äußern, weder die englische Polizei noch seine damaligen Betreuer oder die Familie. Andreas G. wünsche keinerlei Öffentlichkeit, erklärt sein damaliger Anwalt am Telefon.
Stand: 07.04.2015
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