Stichtag

30. April 1812 - Findelkind Kaspar Hauser wird geboren

In zu großen Stiefeln, mit schwarzem Halstuch und einem verfilzten Hut taucht er am Pfingstmontag 1828 in Nürnberg auf. Niemand kennt den verwahrlosten Knaben, der weder gerade laufen noch auf Fragen verständlich antworten kann. Er zeigt den Brief eines angeblichen Tagelöhners an einen "Herrn Wohlgeborenen Rittmeister" vor, aus dem hervorgeht, dass der Junge "Zeit 1812 keinen Schrit weit aus den Haus gelaßen, daß Kein Mensch nicht weiß davon, wo Er auf erzogen ist worden". Dem Schreiben liegt noch ein Zettel bei, dessen Verfasserin sich als "armes Mägdlein" bezeichnet.

Sie könne das Kind mit Namen Kaspar, geboren am 30. April 1812, nicht ernähren und bitte um seine Erziehung bis zum Alter von 17 Jahren. "A söchäna Reiter wern wi mai Voater gwen ist", stammelt der Findling immer wieder, mehr ist nicht von ihm zu erfahren. Bald kursieren in Nürnberg die wildesten Gerüchte um Kaspar Hauser, wie er genannt wird. Zwei Jahrhunderte später streiten Historiker noch immer über Herkunft und Tod des berühmtesten europäischen Findelkindes.

Hauserianer gegen Anti-Hauserianer

Nicht nur die Bänkelsänger des Biedermeier verbreiten, "seine Stirne sei bestimmt für der Krone Zier". Für viele Historiker der sogenannten "Hauserianer"-Fraktion ist Kaspar der Sohn der Fürstin Stephanie und damit Erbprinz des Hauses Baden. Im Kindbett ist er demnach gegen das kränkliche Baby einer Bediensteten, das bald darauf starb, vertauscht worden. Bei Wasser und Brot soll er seine Kindheit in einem Verlies verbracht haben. Als Urheberin dieser Wechselbalg-Intrige gilt die zweite Gattin von Badens Großherzog Karl Friedrich, die ihrem eigenen Sohn Leopold die Thronfolge sichern wollte. Die These vom Kindstausch stützt sich vor allem auf den Ansbacher Gerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach, der Kaspar Hauser persönlich in Augenschein genommen hat.

In einem Schreiben an den König von Bayern bezichtigt der angesehenste Jurist seiner Zeit "das Haus Baden" der Tat. Auch der Hauser-Fan Ulrich Flechtner, heute Vorsitzender Richter am Landgericht Nürnberg, hält Kaspar tatsächlich "aufgrund vieler Indizien" für den Baden-Prinz. Dem widerspricht energisch die "Anti-Hauserianerin" Anna Schiener, Autorin des jüngsten Werks über den Findling. Der Kindstausch könne nicht stattgefunden haben, so die Historikerin, da die Mutter der Stephanie von Baden das verstorbene Kind als ihren Enkel identifiziert habe. Für Schiener ist deshalb sicher, dass Kaspar Hauser in Wirklichkeit ein uneheliches Kind jenes "armen Mägdleins" ist.

Gen-Analysen bringen keine Klärung

So rätselhaft wie seine Abstammung sind zwei angebliche Anschläge 1829 und 1830, bei denen Kaspar Hauser verletzt wird. Notizen seines Lehrers Georg Friedrich Daumer lassen den Schluss zu, dass Kaspar Hauser an einer Persönlichkeitsstörung litt, die heute als Borderline-Syndrom bekannt ist. Mit 19 Jahren übersiedelt Hauser nach Ansbach. Dort fällt er am 14. Dezember 1833 im Hofgarten einem Attentat zum Opfer. Zeugen wollen gesehen haben, dass ihm ein Unbekannter ein Messer in die Brust gestoßen hat. Drei Tage später stirbt Kaspar Hauser. Ob er tatsächlich ermordet wurde oder sich die Verletzung selbst beigebracht hat, bleibt unklar.

Mehr als 3.000 Bücher und unzählige wissenschaftliche Artikel sind inzwischen über das geheimnisumwobene Findelkind erschienen. Zwei 1996 und 2002 durchgeführte Gen-Analysen können eine Verwandtschaft mit dem Hause Baden weder beweisen noch widerlegen. Die vielleicht einzige Möglichkeit, die Erbprinzen-These zu bestätigen, wäre ein DNA-Vergleich mit den Überresten jenes angeblich vertauschten Säuglings, der 1812 in der Familiengruft derer von Baden bestattet wurde. Doch bis heute lehnt das Fürstenhaus eine Graböffnung strikt ab.

Stand: 30.04.2012

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