"Dichten, wie ichs verstehe, heißt nicht schöne Worte, heißt schönes Leben machen." Peter Hille ist dem Schreiben verfallen. Er überzieht jedes Papier mit Texten. Selbst auf Manschetten und Speisekarten fixiert er seine Ideen kurz vor deren Entschwinden - als Gedicht, Aphorismus, Fragment. Der Schriftsteller, der die Literatur um 1900 entscheidend mitprägt, gilt mit seinem abgewetzten, knöchellangen Mantel, seinem zerzausten Haar und seinem langen Bart als Sonderling. Hille ist ein Bohemien, der viel trinkt, kaum Geld besitzt und Säcke mit vollbeschriebenen Papieren bei sich trägt. Er sitzt oft in Berliner Cafés, zieht Blätter aus seinen Manuskriptsäcken und liest vor. Sein Motto: "Programm habe ich nicht. Die Welt hat auch keins."
Geboren wird Peter Hille am 11. September 1854 im westfälischen Dorf Erwitzen in der Nähe von Höxter, als zweites Kind von zehn Geschwistern. Sein Vater ist Lehrer, später Verwalter auf einem Gutshof. Das Gymnasium in Münster verlässt Peter ohne Abschluss. Die Arbeit als Gerichtshelfer in Höxter endet, wie es in einem seiner Briefe heißt, mit einer Flucht nach Leipzig. Er reist durch halb Europa: nach England, Holland, Italien, in die Schweiz. 1893 lässt er sich in Berlin nieder, wo er in der "Neuen Gemeinschaft" lebt, einer anarchistischen Kommune.
Mentor von Else Lasker-Schüler
Im Dezember 1902 eröffnet Hille im Hinterzimmer eines Weinlokals sein Cabaret, wo Dichter ihre Texte präsentieren. Eine der Vortragenden ist Else Lasker-Schüler. Die beiden verbindet eine tiefe Freundschaft. Der 15 Jahre ältere Hille ist ihr Mentor, bestärkt sie im Schreiben und verteidigt ihr poetisches Debüt "Styx". Sie nennt ihn Sankt Petrus, er gibt ihr den Namen Tino. Sie widmet ihm "Das Peter-Hille-Buch", er widmet ihr den unvollendeten "Roman der Schönheit: Sappho. Die Dichterin von Lesbos". In ihren Briefen entfaltet das Dichterpaar einen poetischen Dialog, entwirft parallele Welten und schlüpft in immer wechselnde Identitäten. 1903 resümiert Hille: "Bin bis zu dieser vorgerückten Stunde meines Lebens ein fahrender Scholar verblieben."
"Peter Hille war einer der Ersten, der sich auch in der sich formierenden Homosexuellen-Bewegung engagiert hat", sagt Literaturwissenschaftler Nils Rottschäfer, der eine Hille-Chronik verfasst hat. Da Hille Manifeste und Aufrufe unterschrieben und Beiträge in Homosexuellen-Zeitschriften veröffentlicht habe, werde immer wieder gemutmaßt, er sei homosexuell gewesen.
"Leben aus der Eingebung des Augenblicks"
Die Zeit der Industrialisierung um 1900 wird geprägt von Weltausstellungen, technischen Erfindungen, der entstehenden Psychoanalyse und den aufkommenden Lichtspielhäusern. Der Epochenumbruch zeigt sich auch in Hilles Werk. Er verfasst, so Rottschäfer, "suchende, tastende, erkundende Texte". Der Versuch, etwas ganz Neues zu schaffen, zeige sich etwa im widersprüchlichen und zerstückelten Roman "Die Sozialisten". Das Buch ohne strenge Handlung sei ein Gegenentwurf zu den Prosa-Werken des Bürgerlichen Realismus.
Im April 1904 will Hille in seine Heimat nach Westfalen reisen. Doch es kommt anders. Eines Nachts bricht er in Berlin zusammen und stirbt am Nachmittag des 7. Mai 1904 in einem Krankenhaus, keine 50 Jahre alt. Der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam charakterisiert seinen Freund in seinen "Unpolitischen Erinnerungen" von 1927 als "kindlichen Weisen", der folgende Eigenschaften personifiziere: "Leben aus der Eingebung des Augenblicks, zeitlose Hingabe an Welt und Menschheit, Verbundenheit mit allen Leidenden im Wissen um Freiheit und Glück."
Stand: 11.09.2014
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