In Italien ist die Fiat-Familie Agnelli in den 1980er- und 90er-Jahren das, was die Ewings aus Dallas für die deutschen Fernsehzuschauer sind: eine schwerreiche Industriellenfamilie mit exzentrischen Mitgliedern. Die Hauptpersonen sind vor allem zwei Brüder, so verschieden wie Sonne und Mond. Gianni Agnelli ist seit 1953 charismatischer Vizepräsident von Fiat, dazu ein Kriegs- und Frauenheld. Sein 13 Jahre jüngerer Bruder Umberto Agnelli ist still, introvertiert und kann sich im Unternehmen lange Zeit nicht durchsetzen.
"Il dottore" kann sich nicht durchsetzen
"Umberto Agnelli war ein zurückhaltender, bescheidener Mensch. Der exzentrische Charakter von Bruder Gianni war ihm wahrscheinlich eine Last und natürlich die Tatsache, dass Gianni der Lieblingsenkel des Großvaters gewesen ist", sagt der Industriehistoriker Giuseppe Berta aus Turin. Der Großvater zieht die Brüder auf, nachdem die Eltern bei Unfällen ums Leben gekommen sind. Der Großvater ist der Gründer des Autokonzerns Fiat ("Fabbrica Italiana Automobili Torino").
Als Umberto Agnelli 1934 geboren wird, besitzt Fiat eine der modernsten Fabriken Europas. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Gianni Agnelli Firmenpatriarch und Umberto mit 21 Jahren Präsident des Fußballclubs Juventus Turin. "Die Leitung des Fussballclubs ist eine Bewährungsprobe, die er besteht. Mit 34 Jahren übernimmt er dann Aufgaben im Fiat-Konzern", erklärt Giuseppe Berta. Umberto Agnelli, genannt "il dottore" - der Doktor, hat zwar strategischen Weitblick, agiert aber im Hintergrund. Er steht im Schatten seines älteren Bruders, obwohl beide ein Schicksalsschlag verbindet: Jeder von ihnen verliert einen Sohn, Umberto durch Krankheit, Gianni durch Selbstmord.
Umberto Agnelli versucht, die Autosparte zu retten
Einen Teil des Familienvermögens investiert Umberto Agnelli in anderen Branchen und baut eine Finanzholding auf, die Fiat das nötige Kapital verschafft, um zu expandieren. Doch der Konkurrenzdruck steigt, Fiat verliert Marktanteile. 1994 feiert Fiat sein 100-jähriges Bestehen, in einem Jahr, in dem die Zukunft des Unternehmens mehr als ungewiss ist. "Ich glaube, dass Umberto Agnelli, anders als sein Bruder Gianni, die Autosparte verkauft und in andere Bereiche investiert hätte. Aber er hatte ein enormes Pflichtgefühl der Familie gegenüber", sagt der Industriehistoriker Giuseppe Berta.
Deshalb versucht Umberto nach dem Tod des Bruders im Jahr 2003, die Autosparte zu retten. Italien respektiert ihn dafür, nennt ihn den "Patriarchen wider Willen". Gerettet hat die Autosparte schließlich Sergio Marchionne, italienisch-kanadischer Topmanager und Fiat-Boss seit Juni 2004. Er wird die Zentrale von Turin nach London verlegen. Umberto Agnelli, letzter männlicher Erbe der Agnelli-Dynastie, hat das nicht mehr erlebt: Er ist am 27. Mai 2004 an Krebs gestorben. Nur 15 Monate lang hatte er das Unternehmen geleitet.
Stand: 27.05.2014
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.