Ende des 19. Jahrhunderts ist es für Kriminelle ein Kinderspiel unterzutauchen. Seit sie nicht mehr gebrandmarkt werden dürfen – wie es in Frankreich noch bis 1832 üblich war – sind rückfällige Straftäter nicht mehr zu erkennen. Nahezu ungestraft ziehen damals bis zu 80 Mann starke Banden durch ganz Frankreich, stehlen und morden. Der Erkennungsdienst der Pariser Polizeipräfektur ist zunächst ratlos, weil er seine Aufgaben mit den vorhandenen Mitteln nicht mehr lösen kann.
Vom Hilfsschreiber zum Top-Kriminalisten
Das wird sich im Jahre 1880 endlich ändern - als Alphonse Bertillon Chef des Erkennungsdienstes in Paris wird. Dabei beginnt die Karriere des unbeliebten Sonderlings zunächst wenig glamourös. Durch den Einfluss seines Vaters bekommt Alphonse Bertillon 1879 einen Job als Hilfsschreiber im Pariser Polizeipräsidium, nachdem er wegen Aufsässigkeit und Faulheit aus der Schule geworfen worden war. Eine seiner Aufgaben ist das Sortieren von Karteikarten. "Und zwar von Menschen, die schon mehrfach unter verschiedenen Identitäten verurteilt worden sind", erklärt der Historiker Jean-Marc Berlière, emeritierter Professor der Université de Bourgogne. Inspiriert von der Arbeit seines Vaters kommt der Hilfsarbeiter auf eine geniale Idee. Alphonse Bertillon sucht nach einer Möglichkeit, die immer gleichen Karteikarten mit nichtssagenden Angaben wie "mittelgroß, ovales Gesicht, braune Augen" durch charakteristische Merkmale zu ersetzen. "Das gelingt ihm mit der anthropometrischen Identität", sagt Berlière.
Auf den Spuren der Antropologen
Der Vater, Louis-Adolphe Bertillon, ist Arzt und Mitbegründer einer neuen wissenschaftlichen Disziplin - die Antropologie oder Menschenkunde. Die Forscher damals glauben, einen Menschen wiedererkennen zu können, in dem sie ihn vermessen, registrieren, seine Daten zu Statistiken erheben. Mit diesen Erkenntnissen entwickelt Alphonse in den Jahren 1879 und 1880 das erste geschlossene System zur Personenidentifizierung. Sein kompliziertes Knochenvermessungssystem, die sogenannte Bertillonage, und weitere Erfindungen wie die Tatort-Fotografie und das Phantombild aus drei Blickwinkeln machen ihn weltweit bekannt. Bertillon stellt fest, dass die Identifizierung mit steigender Zahl der Körpermaße genauer wird. Bei der Abnahme von elf Körpermaßen beträgt das Risiko einer Verwechslung 4.191.304 zu 1. Er hält dies für ausreichend und schlägt daher die Verwendung folgender Körpermaße vor: Körperlänge, Armspannweite, Sitzhöhe, Kopflänge, Kopfbreite, Länge des rechten Ohres, Breite des rechten Ohres (später Jochbeinbreite), Länge des linken Fußes, Länge des linken Mittel- und Kleinfingers und Länge des linken Unterarmes.
Ein unangenehmer Zeitgenosse
So macht Alphonse Bertillon - trotz seiner bescheidenen Anfänge - Karriere, wird Chef des Pariser Erkennungsdienstes und erhält das rote Band der Ehrenlegion. Während der Dreyfus-Affäre leidet sein fachlicher Ruf aber erheblich. In dem Hochverratsprozess gegen den jüdischen Offizier tritt Alphonse Bertillon als graphologischer Gutachter auf – der er nicht ist. Er meint beweisen zu können, dass Dreyfus Verfasser der Geheimkorrespondenz mit der deutschen Botschaft in Paris war. "In der Dreyfus-Affäre hat er sich völlig vergaloppiert", sagt Norbert Fleury vom heutigen Erkennungsdienst des Pariser Polizeipräsidiums. Sanktionen gibt es jedoch nicht. "Bertillon bleibt einfach Direktor des Erkennungsdienstes, als ob nichts gewesen wäre", erzählt Fleury.
Als Mensch soll Alphonse Bertillon ein unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Er leidet u.a. an Migräne. Kollegen sprechen von ihm als einem engstirnigen Pedanten, einem völlig verbohrten, frenetischen Besserwisser, sogar einem Verrückten. Mit Händen und Füßen wehrt er sich, den Fingerabdruck als einfachere Identifizierungsmethode anzuerkennen – nur weil er sie nicht erfunden hat. Und das obwohl ihm 1902 damit selbst zum ersten Mal in Europa die Überführung eines Mörders gelingt. Dem schon todkranken Alphonse Bertillon wird zum letzten Mal ein lang ersehnter Orden angeboten. Er braucht nur endlich seinen Irrtum in der Dreyfus-Affäre anerkennen. Empört lehnt er ab – und stirbt am 13. Februar 1914.
Stand: 13.02.2014
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