Sirenen heulen, Autos halten an, viele Menschen steigen aus. Der Verkehr ruht in der Türkei, sogar auf Autobahnen. An jedem 10. November morgens um fünf nach neun Uhr findet das Ritual statt, in Gedenken an den Tod von Atatürk im Jahr 1938.
Mustafa Kemal Atatürk gründete 1923 die Republik Türkei. "Das Kalifat ist ein Märchen der Vergangenheit, das in unserer Zeit keinen Platz mehr hat. Religion und Staat müssen getrennt werden", verkündet er. Er bricht mit der islamischen Vergangenheit des Osmanischen Reiches: Die neue Türkei soll ein moderner Nationalstaat werden, auf dem "Stand der entwickelten und der Wohlstandsländer", wie Atatürk sagt.
Eine neue Alltagswelt für Muslime
Seine Reformen verändern den Alltag der gläubigen Muslime für immer. "Unsere Inspiration beziehen wir nicht aus dem Himmel ... sondern aus dem Leben", sagt er. Abgeschafft werden das religiöse Rechtssystem der Scharia und der Religionsunterricht an Schulen. Der islamische Kalender wird durch den europäischen ersetzt. Die Pilgerfahrt nach Mekka ist ebenso verboten wie der arabische Gebetsruf – er darf nur noch auf Türkisch erfolgen. Atatürk verbietet auch den Fes, die traditionelle türkische Kopfbedeckung, – er hält ihn für das Symbol einer rückständigen Lebensweise. Atatürk trägt Anzug, Weste, Krawatte und den Panamahut. "Die Reformen gipfelten meines Erachtens in der Entscheidung, die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet zu ersetzen", erklärt der Islamwissenschaftler Professor Udo Steinbach aus Berlin.
Kopftuchverbot und Schulschwur wurden abgeschafft
Einige der Verbote werden in den nächsten Jahrzehnten zurückgenommen. Der Gebetsruf erschallt wieder auf Arabisch. Die Pilgerfahrt ist erlaubt und auch der Religionsunterricht an den Schulen wird wieder eingeführt. Auch viele andere der Reformen Atatürks sind heute umstritten. So wurde vor Kurzem das Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten aufgehoben, eines der großen Symbole seiner Politik. "Es gab natürlich Widerstand gegen diesen Schritt. Dass er trotzdem getan werden konnte, zeigt, wie sehr sich die türkische Gesellschaft vom Kemalismus als Staatsideologie emanzipiert hat", sagt der Türkei-Experte Günter Seufert vom Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit. Auch der Schulschwur wurde abgeschafft, mit dem die Schüler an Atatürk denken sollen. Erstmals seit 80 Jahren werden in der Türkei Kinder aufwachsen, die nicht mehr jeden Morgen als erstes "Ich bin Türke" sagen müssen, auch wenn sie Kurden sind.
Stand: 10.11.2013
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