Ob in London oder New York: Die Kinofans stehen 1975 Schlange. Sie wollen Ken Russells neuestes Werk sehen: "Tommy", ein Spielfilm nach der gleichnamigen Rockoper der Gruppe "The Who". Es geht um einen gehörlosen, stummen und blinden Jungen, der zum Weltmeister am Flipper wird. Im Film lässt Regisseur Russell in der Hauptrolle den The-Who-Sänger Roger Daltrey wie Jesus über das Wasser gehen - und sorgt damit für einen weiteren Skandal.
Der Brite gilt als Exzentriker, der mit seinen Filmen - meist eine wilde Mischung aus Religion, Sex und Pop - gerne provoziert. Schon 1971 schreibt das Vatikan-Blatt "Osservatore Romano" über Russells Ketzer-Drama "Die Teufel", es sei "eine Beleidigung für die gesamte Welt des Films".
Kino, Fernsehen, Oper
Der am 3. Juli 1927 in Southampton geborene Russell verbringt schon als Kind viel Zeit im Kino. Bevor er selbst Filme macht, probiert er sich zunächst als Soldat, Tänzer und Fotograf aus. Irgendwann stellt er fest, dass er beim Musikhören den Kopf voller Bilder hat. Dann macht er sich als Dokumentarfilmer für die BBC auf sich aufmerksam: Er porträtiert Komponisten wie Béla Bartók, Claude Debussy und Richard Strauß. Dabei hält er sich weniger an die Fakten, sondern orientiert sich eher am eigenen Erleben der musikalischen Werke. Für die Fernsehdokumentation über den Komponisten Edward Elgar nutzt Russell eine Methode, die heute als Standard gilt: Er lässt Schauspieler die verschiedenen Lebensphasen Elgars darstellen, anstatt alte Photographien zu zeigen.
Mit "French Dressing" dreht Russell 1964 seinen ersten Spielfilm. Fünf Jahre später hat er mit "Liebende Frauen" seinen internationalen Durchbruch. Der Film, der nach einer Romanvorlage von David Herbert Lawrence die Sinnlichkeit in 1920er-Jahren-Kostümen beschwört, wird vier Mal für den Oscar nominiert. Russell wird so erfolgreich, dass in den 1970er Jahren gleich drei seiner Filme in den Kino-Charts sind - einer davon ist "Tommy". Bald inszeniert er nicht nur für Kino und Fernsehen, sondern auch für die Oper.
Videos im eigenen Garten
Die Darstellung von Sex und Kirche in Russells Filmen sorgt immer wieder für Aufregung. In die amerikanischen Kinos kommen seine opulenten Werke nur noch in zensierten Fassungen. Wegen seiner Themenwahl, aber auch wegen des nachlassenden Erfolgs an der Kinokasse, hat Russell immer größere Schwierigkeiten, seine Filme zu finanzieren. Einmal beschwert er sich, dass man ihm eine Vampirgeschichte zurückgeschickt habe mit der Begründung, sie sei nicht filmisch genug. "Und das mir: dem Federico Fellini von East Boldre" - seinem Wohnort in Hampshire.
Doch bis ins hohe Alter lässt Russell es sich nicht nehmen, Filme zu machen. Er dreht mit einer Videokamera in seinem Garten. Am 27. November 2011 stirbt er im Alter von 84 Jahren nach mehreren Schlaganfällen in einem Krankenhaus in Lymington.
Stand: 03.07.2012
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