Manche Menschen haben alle zwölf im Schrank. Bei Reiseübelkeit greifen sie zum Schüßler-Salz Nummer neun - Natrium phosphoricum - , bei kaputten Haaren zur Nummer elf - Silicea - , bei Schlafstörungen zur Nummer sieben - Magnesium phosphoricum. Vor Kollegen musste der Oldenburger Mediziner Wilhelm Heinrich Schüßler sein Lebenswerk stets verteidigen: die von ihm entwickelte "biochemische Heilweise". Er beschreibt zwölf Mineralsalze, die die Zellen im menschlichen Organismus zum Funktionieren brauchen. Sämtliche Krankheiten entstünden, wenn es an einem der Salze mangelt. Schüßler erhöht seinen Ansatz zur universalen Therapie: Man "wird zu der Erkenntniß kommen, daß die biochemischen Mittel, nach richtiger Wahl angewendet, zur Heilung aller durch innerliche Mittel heilbaren Krankheiten genügt", schreibt er 1898 in "Eine abgekürzte Therapie. Anleitung zur biochemischen Behandlung der Krankheiten". Heute zählt sein Verfahren neben Homöopathie und Bachblütentherapie zur Grundausstattung der Alternativheilkunde.
Eigenbrötler und Junggeselle
Wilhelm Heinrich Schüßler wird am 21. August 1821 in Bad Zwischenahn geboren. Früh interessiert er sich für die Homöopathie. Ohne Abitur studiert er in Paris, Berlin und Gießen Medizin, bis die fehlende Hochschulreife bei der Anmeldung zum Staatsexamen auffliegt: keine Prüfung, keine Zulassung. Mit Mitte dreißig holt Schüßler das Abitur nach und lässt sich 1858 endlich als homöopathischer Arzt in Oldenburg nieder. Er arbeitet viel und zu niedrigen Honoraren. Ein Zeitgenosse erinnert sich an den Eigenbrötler und Junggesellen: "Draußen trug er jahraus, jahrein die gleiche Schiffermütze mit großem schwarzen Schirm und dicke, wollene Handschuhe zu jeder Jahreszeit. Den Schirm fasste er wie der Jäger sein Gewehr."
Schüßler-Salze regen angeblich Selbstheilungskräfte an
Nach 15 Jahren als homöopathischer Arzt formuliert er seine biochemische Lehre. Das Grundprinzip: Die Salze werden verdünnt in der Potenz D6 oder D12, also ein Teil Salz zu einer Million oder einer Billion Trägersubstanz, verabreicht. Über die Mundschleimhäute gelangen sie angeblich in Molekülform in die bedürftigen Zellen. So sollen bei einem Eisenmangel die winzigen Eisenteilchen des Schüssler-Salzes Nummer drei, Ferrum Phosphoricum, direkt in die Zellen wandern, die das Eisen benötigen. Von dort aus regen sie die Selbstheilungskräfte des Organismus' an und aktivieren die natürliche Aufnahme von Eisen aus der Nahrung. In Schüßlers Lehre verschmelzen also Homöopathie, die Erkenntnisse Rudolf Virchows und Jakob Moleschotts, wonach sich Krankheiten auf Ebene der Zellen abspielen, und physikalisch-chemische Beobachtungen zur Molekülwanderung im Körper. Schüßlers Verfahren ist im Wissensstand des 19. Jahrhunderts verhaftet, mit der naturwissenschaftlichen Biochemie hat es wenig zu tun.
"Biochemischer Bund" hat mehr Mitglieder als Turnerbund
Dennoch verbreitet sich Schüßlers Lehre massenhaft, vor allem über vereinsartig organisierte Laienverbände. 1890 gründet ein Schüßler-Patient den "Biochemischen Bund", der 1928 mit 180.000 Anhängern mehr Mitglieder hat als der Deutsche Turnerbund. Von Schulmedizinern und Homöopathen wird Schüßlers Verfahren nie akzeptiert; klinische Studien, die den Kriterien der evidenzbasierten Medizin standhalten, fehlen bis heute. Seine Lehre beruht auf positiven Erfahrungsberichten, nicht auf einem wissenschaftlichen Fundament. Schüßler selbst erlebt noch, wie Patienten in großer Zahl an seiner Lehre hängen: Bis zu seinem Tod 1898, im Alter von 76 Jahren infolge eines Schlaganfalls, praktiziert er in Oldenburg.
Stand: 21.08.2011
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