"Ich werde der Vater der Shopping-Mall genannt. Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um ein für alle Mal diese Vaterschaft zurückzuweisen. Ich weigere mich, Alimente für diese Bastardobjekte zu bezahlen", sagt der Stadtplaner und Architekt Victor Gruen. Er selbst bezeichnet sich als Vater der Shopping-Town, ein großer Unterschied.
Mono-Landschaft der Vorstädte aufbrechen
Dem Juden Victor Gruen, 1903 geboren in Wien, gelingt 1938 die Flucht in die USA. "Sein ganzes Schaffen war geprägt von dem Versuch, zwischen beiden Kulturen zu vermitteln und zu übersetzen", sagt Anette Baldauf. Die Soziologin von der Akademie der Bildenden Künste in Wien hat Gruens Memoiren herausgegeben.
In New York gestaltet Gruen Geschäfte und Schaufenster neu, wie eine Bühne, auf der die Produkte angestrahlt werden. Er entwirft Kaufhäuser und plant in den 1950er-Jahren die Vorstädte zu beleben.
Gruen fehlten Herz und Zentrum
"Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in den USA eine Mono-Landschaft in der amerikanischen Vorstadt ausgebreitet, wo sich ein Reihenhaus an das andere reihte", sagt Anette Baldauf. Was Gruen fehlt, ist ein Herz, ein Zentrum.
"Victor Gruen hat versucht, eine Art Stadtzentrum in die Vorstädte zu bringen", sagt Baldauf. In seinen Shopping-Towns will er kommerzielle und zivilgesellschaftliche Einrichtungen an einem Platz konzentrieren: Er denkt also Einkaufsgeschäfte immer zusammen mit Bühnen, Postämtern, Zoos und Kindergärten. Seine erste Shopping-Town öffnet 1954 bei Detroit, das Northland Center.
Kommerz verdrängt die Zivilgesellschaft
"Und dann ist es wie eine Krankheit losgebrochen: Das Konzept wurde leider nach Europa verpflanzt. Ich habe versucht, es zu bekämpfen, den Leuten zu sagen: Amerika soll man kapieren und nicht kopieren", sagt Gruen.
Aus seiner Shopping-Town wird die Shopping-Mall, nicht nur in Europa, auch in den USA. "Was er der Shopping-Mall vorwarf: dass die zivilgesellschaftlichen Einrichtungen sukzessive verdrängt wurden", sagt Anette Baldauf.
Ab Mitte der 1960er-Jahre verabschiedet sich Gruen langsam vom Geschäft mit den Einkaufszentren und widmet sich nur noch dem, was immer sein Hauptanliegen war: Das Bauen für den Menschen, nicht für Kunden und Konsum. "Unsere Städte sind nicht nur gefährlich, hässlich und chaotisch, sie liefern uns auch keine soziale und kulturelle Inspiration", schreibt er.
Vier Jahrzehnte, bevor über eine Verkehrswende diskutiert wird, will Victor Gruen Autos aus den Innenstädten verbannen. Er stirbt am 14. Februar 1980 in Wien.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.45 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 14. Februar 2020 ebenfalls an den Stadtplaner Victor Gruen. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 15.02.2020: Vor 45 Jahren: Letzte Ausgabe der DDR-Werbesendung "Tausend Tele-Tips"