Stichtag

22. Mai 1900 - Ingenieur und Stadtplaner William Lindley stirbt

Keine Trinkwasserversorgung, keine Abwasser- und Abfallentsorgung, die Straßen und Gewässer voller Fäkalien: In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts stinkt es in Hamburg gewaltig. Die Hafenmetropole ist eine wahre Brutstätte für Seuchen wie Cholera und Typhus. Einem jungen Londoner Ingenieur haben es die Hamburger zu verdanken, dass ihre Stadt zu einer Vorreiterin moderner Wasserversorgung wurde.

William Lindley kennt die katastrophalen Zustände aus eigener Erfahrung. Mit 16 Jahren kommt er 1824 erstmals nach Hamburg, erhält durch Kontakte seines Vaters Zugang zum gehobenen Bürgertum und lernt Deutsch. In jener Zeit entdeckt er seine Begeisterung für den Ingenieurberuf. Statt wie geplant ins Bankwesen einzusteigen, will Lindley lieber die Zukunft in Europas Städten mitgestalten. Zurück in London geht er bei dem großen Ingenieur Francis Giles in die Lehre und ist dank seiner Talente bald an großen Hafenplanungs- und Eisenbahnprojekten beteiligt.

Feuersbrunst schafft Raum für Neues

In den 1830er Jahren schickt Giles seinen begabten Assistenten wieder nach Hamburg, um neue Bahnstrecken zu vermessen. Bei der Linie Hamburg-Lübeck unterläuft William Lindley ein brisanter Fehler: Ohne offizielle Genehmigung misst er auf dänischem Hoheitsgebiet. Mit dem reibungslosen Bau der Strecke Hamburg-Bergedorf aber erwirbt sich der diplomatisch gewandte Lindley große Anerkennung. Anfang Mai 1842 reist er zur feierlichen Eröffnung der Bahnlinie erneut an die Elbe - und gerät mitten in eine verheerende Feuersbrunst, die 20.000 Hamburger obdachlos macht. Allein Lindleys Eingreifen verhindert noch größere Verwüstungen. Kurzerhand lässt er große Schneisen in die Stadt sprengen und kann so das Feuer eindämmen. Dass er dabei auch Hamburgs Rathaus nicht verschont, bringt ihm allerdings gehörigen Ärger ein.

Beeinflusst durch den britischen Sozialreformer Edwin Chadwick sieht Lindley sofort die stadtplanerischen Chancen, die sich ihm durch den Brand bieten. Nur wenige Tage später präsentiert er Skizzen für den Wiederaufbau samt einer modernen Infrastruktur: Trinkwasser- und Toilettenanschlüsse für jedes Haus, Straßen mit Gehwegen und Gasbeleuchtung, eine Kanalisation sowie Hydranten für die Feuerwehr. Anfangs noch verleumdet, das Feuer selbst gelegt zu haben, um sich freie Bahn zu verschaffen, erhält Lindley vom Hamburger Senat die Zustimmung für sein revolutionäres Vorhaben.

Die Stadt vertreibt ihren Chefingenieur

In nur drei Jahren ist der erste Bauabschnitt fertig. Stolz meldet Lindley, dass "allein von sieben Mechanikern circa 3000 Waterclosets eingerichtet" wurden, dazu Abwasserkanäle mit einer Länge von zwölf Kilometern - alles termingerecht, ohne Unfälle und fast ohne Kostenüberschreitungen. Damit verfügt Hamburg über Europas erste unterirdische Kanalisation der Neuzeit. In den folgenden Jahren errichtet Lindley Kläranlagen, ein Wasserwerk sowie eine öffentliche Bade- und Waschanstalt, um die prekären hygienischen Zustände in den Armenvierteln zu mildern. Nach seiner Heirat 1852 fordert Hamburgs Chefingenieur die längst verdiente Bestallung als Oberbaurat. Doch mit seiner zupackenden Art hat er sich Feinde gemacht, die seine Festanstellung hintertreiben.

Enttäuscht verlässt Lindley 1860 die undankbare Stadt und wird überall in Europa mit offenen Armen empfangen. Bis zu seinem Ruhestand 1879 erbaut er die Wasserversorgungen in Prag, Warschau, Düsseldorf, Frankfurt und Basel. In Hamburg aber lässt man sein epochales Werk verfallen, bis das Trinkwasser wieder verseucht ist. Die Quittung für ihren Geiz bekommt die Stadt 1892, als eine erneute Cholera-Epidemie 9.000 Menschen das Leben kostet. Erst nach diesem Schock kann William Lindley noch miterleben, dass sein großes Erbe instandgesetzt und ausgebaut wird. Als einer der fähigsten Ingenieure des 19. Jahrhunderts gewürdigt, stirbt er am 22. Mai 1900 mit 91 Jahren in seiner Geburtsstadt London.

Stand: 22.05.2015

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