22. Juli 2011, Freitagnachmittag: Auf der kleinen norwegischen Insel Utøya hält die ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland vor knapp 550 jungen Menschen einen Vortrag. Hier veranstaltet die regierende Arbeiterpartei seit Jahrzehnten Feriencamps für die Mitglieder ihrer Jugendorganisation. Zur selben Zeit freuen sich die Angestellten im eine Autostunde entfernten Regierungs- und Zeitungsviertel von Oslo auf das Wochenende. "Ich hatte Dienst", erinnert sich Journalist Nils Myklebost. "Ich arbeite bei der Norwegischen Nachrichtenagentur NTB, direkt gegenüber vom Regierungsgebäude. Auf einmal gab es diese immense Explosion, völlig überraschend, das ganze Gebäude hat gewackelt."
Später stellt sich heraus: Um 15.25 Uhr hat der Norweger Anders Breivik eine Autobombe gezündet. Es sterben neun Menschen, Dutzende weitere werden verletzt. Während in der Hauptstadt noch gerätselt wird, ob islamische Terroristen hinter dem Anschlag stecken, fährt der 32-Jährige in einem bereitgestellten Fluchtauto zur 30 Kilometer entfernten Insel Utøya. Dort kehrt Brundtland wegen des schlechten Wetters früher als geplant aufs Festland zurück.
Als Polizist verkleidet
Kurz vor 17 Uhr will die kleine Fähre gerade wieder Kurs auf Utøya nehmen, als ein weißer Lieferwagen an der Anlegestelle hält. Breivik steigt aus. "Er trug eine falsche Polizeiuniform", sagt Journalist Myklebost. "Er sagte, er wolle die Jugendlichen über die Explosion in Oslo informieren." Das sei glaubwürdig gewesen, weil viele der Eltern im Regierungsviertel arbeiteten. "Also wurde Breivik auf die Insel gelassen."
Auf Utøya wird Breivik von einem echten Polizisten angehalten, der in seiner Freizeit dort Dienst tut. Er erkennt, dass der Attentäter kein Kollege ist. "Breivik hat ihn als ersten erschossen", sagt Journalist Myklebost. "Damit begann das Schießen." 90 Minuten lang jagt Breivik fliehende Kinder und Jugendliche über die Insel. Die meisten seiner Opfer erschießt er aus nächster Nähe. Die Polizei braucht lange, bis sie ihn stoppen kann: Norwegens einziger Polizeihubschrauber ist nicht einsatzbereit, alarmierte Polizisten kommen zur falschen Anlegestelle. Erst um 18.34 Uhr ergibt sich Breivik einem Sondereinsatzkommando. 68 Menschen hat er mit Kugeln getötet.
21 Jahre Gefängnis plus Sicherungsverwahrung
"Einer von uns" heißt das Buch, das die Journalistin Asne Seierstad über Brevik geschrieben hat. Sie schildert ihn als sozial isolierten, zutiefst narzisstischen Menschen, der besessen ist von dem faschistoiden Wahn, Norwegen aus der Hand von Feministinnen, Linksliberalen und Migrationsbefürwortern befreien zu müssen. "Er ist ein politischer Terrorist." Er habe genau gewusst, wen er tötet. "Er hat sie für ihre politischen Ideale getötet."
In seiner Aussage vor Gericht bezieht sich Breivik unter anderem auch auf die Zwickauer Terrorzelle NSU. Die Gegner von Einwanderung und Multikulturalismus hätten sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht frei äußern dürfen. Er habe nicht nur das norwegische Kabinett einschließlich Ministerpräsident Jens Stoltenberg umbringen wollen, sondern auch Gro Harlem Brundtland. Die Politikerin habe er vor laufender Kamera enthaupten und das Video später ins Internet stellen wollen. Im August 2012 wird Breivik zu der in Norwegen möglichen Höchststrafe verurteilt: 21 Jahre Gefängnis, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Anfang 2016 verklagt er den norwegischen Staat. Seine Isolationshaft verstoße gegen die Menschenrechtskonvention. Ein Gericht in Oslo gibt ihm in Teilen recht.
Programmtipps:
Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.
"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 22. Juli 2016 ebenfalls an die Anschläge von Anders Breivik in Norwegen. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.
Stichtag am 23.07.2016: Vor 5 Jahren: Amy Winehouse stirbt in London
-
-
-
- 13. April 1995: Urteile gegen Lübecker Synagogen-Brandstifter | mehr
-
- 22. August 1992: Ausländerfeindliche Krawalle in Rostock | mehr
-