24. August 2006 - Murat Kurnaz wird aus Guantánamo freigelassen

Stand: 24.08.2016, 00:00 Uhr

Frankfurt am Main, 3. Oktober 2001: Der 19-jährige Murat Kurnaz besteigt ein Flugzeug nach Pakistan. Der gebürtige Bremer sagt später, er habe mit einem Freund nach Lahore reisen wollen, um dort eine Islamschule zu besuchen. Da der Freund am Flughafen festgehalten wird, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlt hat, macht sich Kurnaz alleine auf den Weg. Seit den islamistischen Terroranschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon sind gerade einmal drei Wochen vergangen. Das US-Militär bereitet sich für einen Angriff auf Afghanistan vor, weil dort der Drahtzieher der Anschläge vom 11. September, Osama bin Laden, vermutet wird.

Doch die angespannte Lage hat angeblich keinen Einfluss auf die Reiseplanung von Kurnaz: "Ich hab mir dabei nichts gedacht, dass das alles irgendwie gefährlich sein könnte, weil damals gab es noch keinen Krieg zwischen Amerika und Afghanistan." Nachdem ihn die Islamschule in Pakistan abgelehnt habe, sei er im Land umhergereist. Als Kurnaz zurück nach Deutschland will, beginnt für ihn ein Albtraum: Auf der Fahrt zum Flughafen wird er im Dezember 2001 von pakistanischen Sicherheitskräften festgenommen und den US-Streitkräften im Land übergeben - verraten für ein Handgeld. Ist er ein illegaler Kämpfer auf dem Weg zum Schlachtfeld Afghanistan? Bis heute sind die Hintergründe seiner Pakistanreise nicht zweifelsfrei geklärt. Aber ein erklärter Dschihadist ist er nicht.

In Guantánamo gefoltert

Kurnaz wird nach Afghanistan auf den Stützpunkt Bagram gebracht, wo gefasste Al-Kaida-Kämpfer festgehalten werden. Im Februar 2002 wird er zusammen mit weiteren Gefangenen von Kandahar in das US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba verlegt. Sie gehören zu den ersten Insassen. "In Guantánamo werden zwei verschiedene Arten von Folter angewendet, das eine ist psychisch, das andere ist physisch", sagt Kurnaz später. Die Methoden: Waterboarding, systematischer Schlafentzug, Monate in einer Isolationszelle. Kurnaz wird geschlagen und gedemütigt. Den US-Verhörspezialisten ist schnell klar, dass sie offenbar den Falschen erwischt haben. Am 23. September 2002 erhält er Besuch aus Deutschland: Zwei Männer vom BND und ein Kollege vom Verfassungsschutz befragen ihn zwei Tage lang. Auch sie finden keine Hinweise darauf, dass Kurnaz ein islamistischer Terrorist ist.

Die rot-grüne Regierung in Berlin weiß schon seit Monaten, dass in Guantánamo ein Bremer festgehalten wird - die Medien sprechen vom "Bremer Taliban". Doch Kurnaz ist zwar in Deutschland geboren, aber er ist türkischer Staatsbürger. Die deutschen Behörden fühlen sich daher nicht zuständig. In den Geheimdienstakten vom 29. Oktober 2002 steht dazu: "Bundesnachrichtendienst plädiert hinsichtlich der Anfrage der USA, ob Murat Kurnaz nach Deutschland oder in die Türkei abgeschoben werden sollte, für die Abschiebung in die Türkei und Einreisesperre nach Deutschland. Abteilungsleiter Bundeskanzleramt und Staatssekretär Bundesinnenministerium teilen die Auffassung."

Zu Unrecht festgehalten

Chef des Bundeskanzleramtes ist damals der heutige Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Ihn sieht Kurnaz noch immer in der Verantwortung: Obwohl der BND nach dem Geheimverhör in ihm keine Gefahr für die deutsche Öffentlichkeit gesehen habe, habe ihn Steinmeier weiter in Folterhaft sitzen lassen. Zwei Untersuchungsausschüsse des Bundestages sehen im Fall Kurnaz allerdings keine Verfehlungen von deutscher Seite. Steinmeier beruft sich damals und bis heute auf die Staatsräson: "Niemand zweifelt, auch ich nicht, dass Herr Kurnaz in Guantánamo Schlimmes durchlitten hat", so der SPD-Politiker. "Aber zugleich, das verstehen Sie bitte, waren wir auch gehalten, für Sicherheit in unserem eigenen Land zu sorgen."

In Guantánamo befindet eine Untersuchungsrichterin 2005: Kurnaz wird zu Unrecht festgehalten. Seine Freilassung und seine Überstellung aber ziehen sich hin. Erst nach dem Regierungswechsel in Deutschland forciert der neue Kanzleramtsminister Thomas de Maizière (CDU) eine Entscheidung. Das geht aus den von Wikileaks veröffentlichten diplomatischen Depeschen hervor. Nach viereinhalb Jahren in Guantánamo wird Kurnaz am 24. August 2006 auf die US-Luftwaffenbasis Ramstein ausgeflogen und anschließend zu seiner Familie in Bremen gebracht. Murat Kurnaz, der nie eine Entschädigung erhalten hat, engagiert sich heute bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International: "Es gibt sehr viele Häftlinge, die immer noch in Guantánamo sitzen, und zwar immer noch ohne Gerichtsurteil."

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