Zu Beginn des letzten Monats im islamischen Kalender herrscht in Mekka der Ausnahmezustand. Muslime aus der ganzen Welt strömen in die saudische Stadt, um die bedeutendste Reise ihres Lebens zu absolvieren, den Haddsch. Die Pilgerfahrt in die Geburtsstadt des Propheten Mohammed zählt zu den fünf Hauptpflichten des Islam. Jeder gesunde Gläubige, der es sich leisten kann, muss sie mindestens einmal unternehmen.
Für viele Muslime ist es zugleich die letzte Reise ihres Lebens. Immer wieder ereignen sich bei den Massenansammlungen von über zwei Millionen Pilgern Katastrophen durch Paniken, Unglücksfälle oder Terrorakte. Auch im Januar 2006 steht der Haddsch unter keinem guten Omen. Bereits am 11. Januar kommen mehr als 70 Pilger bei einem Hoteleinsturz in Mekka ums Leben. Es werden nicht die einzigen Opfer bleiben.
"Gottgegebenes Schicksal"
Das gefährlichste Nadelöhr jedes Haddsch befindet sich in Mina östlich von Mekka, wo das Gros der Pilger in Zeltlagern übernachtet. Nach dem Mittagsgebet sieht der Haddsch die Steinigung des Teufels vor. Dazu werfen die Gläubigen vom Boden und von einer in den 60er Jahren errichteten Brücke Steine auf drei Säulen, die den Satan symbolisieren. Am 12. Januar 2006 drängen rund 2,5 Millionen Pilger zu dem Ritual. Seit einer Massenpanik zwei Jahre zuvor mit 244 Toten sind die Säulen in eine Mauer eingebunden. Sie soll den Werfern eine größere Trefferfläche bieten und andere Gläubige vor Steinen schützen. Diesmal jedoch wird das Unheil durch Koffer ausgelöst, die von einem Bus auf der Brücke in das Menschenmeer darunter fallen.
Beim Überklettern der Koffer entsteht ein Gedränge, das sich zu einer Massenpanik ausweitet. 364 Menschen werden zu Tode getrampelt, Hunderte müssen mit schweren Verletzungen in Kliniken eingeliefert werden. Im TV-Sender Al-Dschasira klagen Augenzeugen über ungenügende Sicherheitsmaßnahmen, die Behörden jedoch geben den Pilgern selbst die Schuld. "Einige waren undiszipliniert und wollten das Ritual möglichst schnell beenden, ohne an die anderen zu denken", erklärt ein Sprecher des Innenministeriums. Das saudische Königshaus als "Wächter der heiligen Stätten" bedauert die neuerliche Katastrophe als "gottgegebenes Schicksal".
Erneute Tragödie 2015
Seit langem bemüht sich das Herrscherhaus, die sich ständig verschärfenden Probleme bei der größten Menschenansammlung der Erde in den Griff zu bekommen. Beinahe jedes Jahr kommen Pilger in Mekka und Mina zu Tode, mindestens 5.000 Opfer waren es in den vergangenen vier Jahrzehnten, Hunderttausende wurden verletzt. Die bislang schwerste Tragödie ereignet sich 1990, als bei einer Massenpanik in einem Fußgängertunnel 1.430 Menschen qualvoll ums Leben kommen. 2001 gründet die saudische Regierung eine Organisation, um die Sicherheit des Haddsch zu verbessern – auch mit Unterstützung deutscher Experten.
Rund zehn Milliarden Dollar seien in Mekka investiert worden, bestätigt der zu Rate gezogene Duisburger Physiker Hubert Klüpfel. Die Wege von und zu den heiligen Stätten haben nun die Breite mehrspuriger Autobahnen. An der Steinigungsstätte in Mina wurde die alte Brücke durch einen fünfstöckigen Neubau ersetzt, um mehr Platz für das Ritual zu schaffen. Dennoch, warnt Klüpfel 2010 kurz vor Abschluss seiner Arbeit in Mekka, "gibt es noch viel zu tun." Fünf Jahre danach wird seine Lagebeurteilung traurige Realität. Am 11. September 2015 sterben zunächst 111 Wallfahrer, als ein Baukran auf die Große Moschee in Mekka stürzt. Zwölf Tage später kommen bei einer neuerlichen Massenpanik in Mina nach offiziellen Angaben 769 Pilger ums Leben. Unabhängige Quellen berichten sogar von weit über 2.000 Todesopfern.
Stand: 12.01.2016
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